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Kuessnacht

 

11. Station: Die Hohle Gasse und Wilhelm Tell - Küssnacht/Schweiz
19. Juli 2020

„Durch diese hohle Gasse muss er kommen.“ Wie oft wird dieses Zitat verwendet. Meist in Erwartung einer Person und oft ohne konkrete Vorstellung der Herkunft dieses geflügelten Worts. Eine Zeile weiter im Text findet sich zumindest ein Hinweis auf einen Ort: „Es führt kein andrer Weg nach Küssnacht“.  Und diese hohle Gasse gibt es tatsächlich. Zwischen Zuger See und Vierwaldstätter See gelegen, verbindet sie die Orte Immensee und Küssnacht im Herzen der Schweiz. Schwere, moosbewachsene Steine säumen die mit großen Natursteinen gepflasterte Gasse  und stützen die Hänge dieses Hohlwegs, der durch dichtes Waldgebiet führt. Der große Parkplatz mit Grillplatz und der Infopavillon am westlichen Eingang der Gasse lassen allerdings vermuten, dass es sich hier um keinen gewöhnlichen Weg in idyllischer Landschaft handelt. Und diese Einschätzung trügt nicht. Wir befinden uns an einem zentralen Gedenkort der Schweiz. Der Legende zufolge soll hier im Jahr 1307 der Schweizer Freiheitskämpfer Wilhelm Tell mit einem Pfeil den habsburgischen Landvogt Gessler erschossen haben. Einer der bedeutendsten Dramatiker der Literaturgeschichte, Friedrich Schiller, verewigte ihn mit seinem Schauspiel „Wilhelm Tell“ und trug so dazu bei, dass dieser weit über die Grenzen der Schweiz hinaus bis zum heutigen Tag unvergessen ist.

Doch was ist Wahrheit und was ist Legende. Schrieb Schiller, der von 1789 – 1799 an der Universität Jena zehn Jahre lang Vorlesungen als Historiker hielt, die Biographie einer historischen Persönlichkeit in Schauspielform? Oder inszenierte er den überlieferten Gründungsmythos eines Landes und schmückte ihn weiter aus?

Blicken wir zuerst auf die belegbaren historischen Fakten. Das Gebiet der heutigen Schweiz war, aufgeteilt in viele kleine, weltliche und geistliche Herrschaften, im 13. Jahrhundert Bestandteil des Heiligen Römischen  Reichs. Größte Landesherren waren die Grafen von Savoyen und die Habsburger, zu deren Stammlanden diese Schweizer Besitzungen gehörten. Hier waren sie Landesherr mit allen Rechten, vollkommen unabhängig davon, ob ein Mitglied ihres Hauses gerade die Krone des Reichs trug oder nicht. Genau diese Landesherrschaft lehnten aber viele Bürger des Territoriums ab. Sie wollten nicht mehr einem Fürsten dienen, sondern direkt dem König bzw. Kaiser untertan sein. So wie wir es von den Freien Reichsstädten oder den reichsunmittelbaren Klöstern kennen. Im Kampf um die Reichsunmittelbarkeit ihrer Territorien schlossen sich im Jahre 1291 die Vertreter von Uri, Schwyz und Unterwalden zu einem sogenannten ewigen Bund zusammen. Dieser Schritt zum Dreierbund wird als der Gründungsmoment der Schweiz angesehen. Nach und nach kamen weitere Städte und Gebiete hinzu. Manche schlossen sich freiwillig an, andere wurden den Habsburgern im Kampf abgenommen. Und in dieser Zeit ist Schillers Schauspiel angesiedelt. Das heißt, der historische Hintergrund des Stücks, das Ringen um Unabhängigkeit der Schweizer Bürger und die Auseinandersetzung mit dem habsburgischen Fürstenhaus ist belegt. Ebenso ist belegbar, dass die Gebiete rund um Zuger See und Vierwaldstätter See das Herzstück der entstehenden Schweizer Unabhängigkeit waren.

Nicht historisch belegbar sind aber die zentralen Personen Tell und Geßler in Schillers Schauspiel. Der Dichter hatte sie aber nicht frei erfunden. Er bediente sich als Grundlage für seine Arbeit der Tell-Legende, die der Oberwaldner Landschreiber Hans Schriber 1470, also rund 160 Jahre nach dem angeblichen Todesschuss, in das „Weisse Buch von Sarnen“ niederschrieb. Wie in dem Buch eines Landbeamten üblich, enthält dieses Werk Abschriften von Verträgen, Abkommen oder Bundesbriefen, die alle für die tägliche Arbeit von Bedeutung waren. Schriber widmete sich aber zusätzlich ausführlich der Entstehung der Eidgenossenschaft. Mehrere Erzählungen und Berichte befassen sich mit diesem Thema.  Der Autor stützt sich dabei auf verschiedene Quellen aus der Schweiz, beispielsweise die Berner Chronik Konrad Justingers oder das Züricher Buch vom Adel.

Er verwendet aber auch, und nun wird es überraschend, eine nordische Sage aus der Gesta Danorum („Die Taten der Dänen“) des dänischen Geschichtsschreibers Saxo Grammaticus, die um 1200 niedergeschrieben wurde. In sechzehn Bänden fasst der Schreiber des Erzbischofs von Lund die Geschichte Dänemarks und die Sagen seiner nordischen Heimat zusammen. In einer der niedergeschriebenen Sagen, der Tokosage, taucht erstmals das Motiv vom Apfelschuss auf, das bis heute die bekannteste Szene der Tellsage bildet. Wer hat es nicht vor Augen: der Vater, der auf Anforderung des Tyrannen den eigenen Sohn in Lebensgefahr bringen muss.
Schriber kannte wohl die im 15. Jahrhundert in Europa weit verbreitete lateinische Übersetzung der Gesta Danorum und adaptierte die beeindruckende Erzählung vom Gefolgsmann Toko für seine Darstellung der Bundesgründung. Sogar die wütende Antwort auf die Frage nach dem Sinn des zweiten Pfeils, den der Schütze beim Apfelschuss bereit hatte, findet sich schon in der nordischen Ursprungssage. Schiller formulierte es dann in seinem Stück formvollendet:

„Mit diesem zweiten Pfeil durchschoss ich – Euch,
wenn ich mein liebes Kind getroffen hätte,
Und Euer - wahrlich hätt ich nicht gefehlt.“

Die Tell-Legende verbreitete sich schnell in der Schweiz. 1507 fand sie erstmals Eingang in ein gedrucktes Buch, die Luzerner Chroniken von Melchior Russ und Petermann Etterlin. Der bedeutende Schweizer Geschichtsschreiber Aegidius Tschudi brachte die Tell-Legende um 1550 in seinem Chronicon Helveticum in seine bis heute gültige Form. Aus der nordischen Sagengestalt war der allgemein anerkannte Gründervater der Schweiz geworden. Endgültig zur populären, alle Zeiten und Trends überdauernden Heldengestalt wurde er durch das 1804 uraufgeführte Bühnenwerk Friedrich Schillers.
Wie aber kam nun Schiller, der nie die Schweiz bereist hatte und zum Zeitpunkt der Niederschrift schon etliche Jahre im weit entfernten Weimar lebte, auf die Idee, ausgerechnet diesen Stoff für die Theaterbühne zu adaptieren? So erstaunlich, wie es auf den ersten Blick scheinen mag, ist diese Wahl nicht. In allen Epochen der Literatur war es üblich, dass sich die Autoren bei ihrer Stoffwahl frei über Sprach- und Herrschaftsgrenzen hinweg bewegten. Sagen und Mythen waren ein beliebter Fundus, egal, aus welcher Ecke Europas und welchem Zeitalter sie kamen. So befasste sich Shakespeare ganz selbstverständlich mit dem Streit unter Adelsfamilien in Florenz und Problemen des Dänischen Königs. Auch Schiller war europaweit unterwegs. Neben dem Schweizer Nationalhelden Tell setze er mit seiner romantischen Tragödie „Die Jungfrau von Orléans“ auch der französischen Nationalheiligen Jean d‘ Arc ein literarisches Denkmal. 
Hinzu kam, dass der Stoff mit dem Aufstand gegen einen Fürsten und dem Kampf gegen den Tyrannen und für Freiheit wie geschaffen für ihn war. Musste er nicht selbst vor einem absolutistischen Herzog von Württemberg fliehen, der ihn mit Schreibverbot belegen wollte? Sein erstes veröffentlichtes Drama „Die Räuber“, das von der ersten bis zur letzten Zeile vom Freiheitsgedanken kündet, konnte 1782 nur in Mannheim, in der liberaleren Kurpfalz zur Aufführung gebracht werden. Das Drama „Don Carlos“ wiederum ist eine schonungslose Abrechnung mit dem System der Intrige, Überwachung und Kontrolle an einem absolutistischen Königshof. An der Frage des Umgangs mit den Niederlanden, die 1581 ihre Unabhängigkeit von der Spanisch-Habsburgischen Krone erklärt hatten, wird das gesamte auf Unterdrückung und Unfreiheit aufgebaute Staatsystem der habsburgisch-spanischen Krone im 16.  Jahrhundert bloßgestellt.  Diesem System wird die „Republik der Sieben Vereinigten Provinzen der Niederlande“ als Ort des freiheitlichen und demokratischen Lebens gegenüber gestellt.
Freiheit und der Anspruch aller Menschen auf ein frohes und selbstbestimmtes Leben trägt als zentrales Motiv auch Schillers 1785 in ihrer ersten Fassung veröffentlichten „Ode an die Freude“.  An vielen Stellen dieses Gedichts fühlt sich der Leser geradezu auf den Dreiklang „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ hingeführt, der die nur vier Jahre später ausbrechende französische Revolution prägen sollte. Im Alter von 26 Jahren schuf der Dichter hier die Utopie einer Welt ohne Krieg und Unterdrückung. Eine Generation später, nach den Verheerungen der napoleonischen Kriege und den Rückschritten der Restauration, sollte Beethoven diese schwärmerische Verehrung des glücklichen, freien Lebens vertonen. Er nahm die Sehnsucht nach Freude, Frieden und Freundschaft in seine 9. Symphonie auf. Damit ging das Werk in die Musikgeschichte ein.


Mit der Entscheidung des Europarats und der Entscheidung der Staats- und Regierungschefs der EU, Beethovens „Ode an die Freude“ zur offiziellen Hymne der Europäischen Union zu erklären, wurde deutlich, welchen Wert diese Dichtung auch noch in unserer Zeit darstellt. Obwohl aus Gründen der Gleichbehandlung aller Nationen und Sprachen nur die Instrumentalfassung, also ausschließlich die Melodie, offizielle Europahymne ist, wurde schon bei der Entscheidung deutlich, dass Schillers Text die Auswahl wesentlich beinflusst hat. In ihrer Begründung führt die Europäische Union aus: „Die Hymne symbolisiert nicht nur die Europäische Union, sondern auch Europa im weiteren Sinne. Mit seiner „Ode an die Freude“ brachte Schiller seine idealistische Vision zum Ausdruck, dass alle Menschen zu Brüdern werden – eine Vision, die Beethoven teilte.“ Und da die Menschen den Text Schillers im Hinterkopf haben, kann weiter festgestellt werden: „Ohne Worte , nur in der universellen Sprache der Musik, bringt sie die europäischen Werte Freiheit, Frieden und Solidarität zum Ausdruck.“

Es gab also hinreichend Gründe, dass Friedrich Schiller auf dem Höhepunkt seiner schriftstellerischen Laufbahn sich gerade mit Wilhelm Tell befasste. Doch wie fand der Stoff überhaupt den Weg aus der Schweiz auf den Dichterschreibtisch in Weimar? Es war der Freund und große Kollege Johann Wolfgang von Goethe, der Schiller auf die Sage aufmerksam machte. Im Gegensatz zu Schiller kannte Goethe die Schweiz persönlich. Dreimal hatte er sie bereist. Bei der dritten Reise 1797 war er am Vierwaldstätter See mit der Tell-Sage in Berührung gekommen. Die Geschichte begeisterte ihn und er wollte sie zu einem Versepos verarbeiten. In der Fülle seiner Ideen und Projekte kam es dann nicht dazu. Er hatte aber Schiller mit seiner Begeisterung für Tell angesteckt und nachdem der Kollege seinen Versepos nicht zu Papier brachte, machte sich der jüngere der beiden daran, den so vielversprechenden Stoff zu einem Schauspiel zu verarbeiten. Es entstand eines der erfolgreichsten und bis heute am meisten gespielten Stücke der Theatergeschichte. Gleichzeitig formte Schiller die Vorstellung des Wilhelm Tell, wie sie sich bis heute in der Welt erhalten hat. Kurz zusammengefasst  kann festgestellt werden: ein württembergischer, im Herzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach lebender Autor schuf aus dem Stoff eines dänischen Geschichtsschreibers den Schweizer Nationalmythos. Wenn dies kein wahrhaft europäisches Werk ist.

Die Hohle Gasse ist mit einer eigenen Seite im Internet präsent:
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