Mit der Entscheidung des Europarats und der Entscheidung der Staats- und Regierungschefs der EU, Beethovens „Ode an die Freude“ zur offiziellen Hymne der Europäischen Union zu erklären, wurde deutlich, welchen Wert diese Dichtung auch noch in unserer Zeit darstellt. Obwohl aus Gründen der Gleichbehandlung aller Nationen und Sprachen nur die Instrumentalfassung, also ausschließlich die Melodie, offizielle Europahymne ist, wurde schon bei der Entscheidung deutlich, dass Schillers Text die Auswahl wesentlich beinflusst hat. In ihrer Begründung führt die Europäische Union aus: „Die Hymne symbolisiert nicht nur die Europäische Union, sondern auch Europa im weiteren Sinne. Mit seiner „Ode an die Freude“ brachte Schiller seine idealistische Vision zum Ausdruck, dass alle Menschen zu Brüdern werden – eine Vision, die Beethoven teilte.“ Und da die Menschen den Text Schillers im Hinterkopf haben, kann weiter festgestellt werden: „Ohne Worte , nur in der universellen Sprache der Musik, bringt sie die europäischen Werte Freiheit, Frieden und Solidarität zum Ausdruck.“
Es gab also hinreichend Gründe, dass Friedrich Schiller auf dem Höhepunkt seiner schriftstellerischen Laufbahn sich gerade mit Wilhelm Tell befasste. Doch wie fand der Stoff überhaupt den Weg aus der Schweiz auf den Dichterschreibtisch in Weimar? Es war der Freund und große Kollege Johann Wolfgang von Goethe, der Schiller auf die Sage aufmerksam machte. Im Gegensatz zu Schiller kannte Goethe die Schweiz persönlich. Dreimal hatte er sie bereist. Bei der dritten Reise 1797 war er am Vierwaldstätter See mit der Tell-Sage in Berührung gekommen. Die Geschichte begeisterte ihn und er wollte sie zu einem Versepos verarbeiten. In der Fülle seiner Ideen und Projekte kam es dann nicht dazu. Er hatte aber Schiller mit seiner Begeisterung für Tell angesteckt und nachdem der Kollege seinen Versepos nicht zu Papier brachte, machte sich der jüngere der beiden daran, den so vielversprechenden Stoff zu einem Schauspiel zu verarbeiten. Es entstand eines der erfolgreichsten und bis heute am meisten gespielten Stücke der Theatergeschichte. Gleichzeitig formte Schiller die Vorstellung des Wilhelm Tell, wie sie sich bis heute in der Welt erhalten hat. Kurz zusammengefasst kann festgestellt werden: ein württembergischer, im Herzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach lebender Autor schuf aus dem Stoff eines dänischen Geschichtsschreibers den Schweizer Nationalmythos. Wenn dies kein wahrhaft europäisches Werk ist.