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Prag

 

7. Station:  Das Theater am Geländer - Prag/Tschechien
21. Juni 2020

Es ist eine unscheinbare Altstadtgasse, die unweit der weltberühmten Karlsbrücke auf das Moldauufer trifft. Von den unüberschaubaren Besucherströmen, die sich in „normalen Zeiten“ sommers wie winters durch die Straßen Prags wälzen, kommt nur ein kleiner Teil hier an. Unscheinbar ist auch die Fassade des kleinen Theaters in dieser Gasse. Auf den ersten Blick könnte man es für eine der typischen Kleinkunstbühnen halten wie es sie in den meisten europäischen Städten gibt. Und doch ist das Theater Divadlo na Zábradli, das Theater am Geländer, ein besonderer Ort, der seinen festen Platz in der europäischen Literaturgeschichte und der europäischen Geschichte hat.

Als sich im Dezember 1958 erstmals der Vorhang nach einer mit viel Applaus bedachten Premiere senkte, war noch nicht absehbar, dass von diesem kleinen Theater einmal Impulse von internationaler Bedeutung ausgehen würden. Diese Entwicklung war auch noch nicht absehbar, als wenige Monate später ein junger Mann seine Arbeit als Bühnentechniker in diesem Haus aufnahm. Gerade hatte er seinen zweijährigen Militärdienst absolviert. Seine Bildungslaufbahn zuvor war nicht sehr glücklich verlaufen. Als Sohn einer etablierten Prager Großbürgerfamilie, die 1948 enteignet wurde, musste er die Schule im Alter von vierzehn Jahren mit Erfüllung der Schulpflicht verlassen. Es folgten Arbeit in einem Chemielabor, Abendschule und Job als Taxifahrer. Ein Studium an der geisteswissenschaftlichen Fakultät wurde ihm aus politischen Gründen verwehrt, das Studium der Wirtschaftswissenschaften brach er ab. Es war nicht seine Welt. Das Theater war dann aber die Welt von Václav Havel – so hieß der junge Mann nämlich, der im Alter von 23 Jahren im Theater am Geländer ankam und hier einen festen Anker für die nächsten Jahre fand, die turbulent werden sollten und ihn mehrmals in das Gefängnis, aber auch in das Amt des Staatspräsidenten brachten. Vor allem als Politiker blieb Havel in Erinnerung. Wesentliche Spuren hat er aber auch als Schriftsteller hinterlassen und diesen wollen wir uns heute widmen.
In kurzer Zeit entwickelte er sich hier an dem kleinen Theater vom Bühnentechniker und Beleuchter zum Dramaturgen und Hausautor. 1963 wurde  hier sein erstes Bühnenwerk aufgeführt: „Das Gartenfest“. Zwei Jahre später folgte „Die Benachrichtigung“. Beide Stücke sind im Stil des in den fünfziger Jahren in Frankreich aufgekommenen Absurden Theaters geschrieben, zu dessen Pionieren der Rumäne Eugène Ionesco und der Ire Samuel Beckett gehören. Die Einheit von Zeit, Handlung und Ort des klassischen Theaters löst sich auf. Unerklärliche Handlungen und unlogische Szenarien lösen sie ab. Die Absurdität des Lebens, das Gefangensein der Menschen in undurchschaubaren bürokratischen Abläufen stehen im Mittelpunkt der Stücke. Der Tagesablauf der Menschen ist von sinnfreien Anforderungen und einer alles erstickenden Bürokratie geprägt. Alle Bereiche des Lebens werden in starre, oft nicht begreifbare Strukturen gegossen und selbst die Sprache wird zum reinen Mittel der Einordnung des Individuums. Zu diesem Zweck wird auch vor Verfremdung und Entwicklung künstlicher Sprache nicht zurück geschreckt. Im Hintergrund steht oft eine nicht erkennbare oder sich zumindest nicht erklärende Autorität. Die Mechanisierung des Menschen steht im Mittelpunkt der Handlungen. Werden diese Aspekte in den Stücken des absurden Theaters auf die Spitze getrieben, entsteht oft eine ganz eigentümliche Atmosphäre im Spannungsfeld zwischen Lachen und Entsetzen. Die Absurdität der Ereignisse wirkt im ersten Moment lächerlich und auf den zweiten Blick bleibt Beklemmung.
Bei dieser Beschreibung der Inhalte und Wirkung des Absurden Theaters drängt sich gerade in Prag die Verbindung zu einem Autor nahezu auf, der 1883 hier geboren wurde und in dieser Stadt lebte und schrieb: Franz Kafka. In seinen Werken treibt er die Verstrickung einzelner Menschen in  groteske und eigentlich unerklärliche Situationen so auf die Spitze, dass dafür mit seinem Name ein eigener Begriff geprägt wurde: kafkaesk.
Obwohl Kafka Romane und Erzählungen schrieb, begegnet er uns im Theater am Geländer. Der Dramaturg Jan Grossmann adaptierte das von Kafka hinterlassene Romanfragment „Der Prozess“  für die Bühne und brachte die dramatisierte Form des Werks hier 1966 zur Aufführung.  Die Bedeutung dieser Inszenierung kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Denn 42 Jahre nach Kafkas Tod im Jahr 1924 lag sein Werk, das Autoren in ganz Europa beeinflusste, noch nicht in tschechischer Übersetzung vor. Der Prager Autor hatte ausschließlich Deutsch geschrieben. Nun wurden erste Teile seines Werks plötzlich auch weiteren Teilen der Bevölkerung seiner Heimatstadt zugänglich.
Die Absurdität, die aus den Stücken Havels und Kafkas herausbricht, wurde von den Menschen in Prag immer stärker mit ihren eigenen Lebensverhältnissen in der Tschecheschslowakischen Sozialistischen Republik in Verbindung gebracht. Gemeinsam mit anderen Intellektuellen und ihren Werken, zum Bespiel dem Romanautor Karel Peckas oder dem Filmemacher Miloš Forman, schufen die Macher des Theaters am Geländer so eine Atmosphäre, die auf den Prager Frühling hinführte.

Das Ergebnis ist bekannt: der Versuch einer Liberalisierung und Demokratisierung des Sozialismus in der CSSR wurde durch den Einmarsch von Truppen des Warschauer Pakts im August 1968 brutal gestoppt. Havel, der nie Mitglied der kommunistischen Partei war, gehörte zu den wichtigsten parteilosen Unterstützern des Reformprozesses. Schon 1967 hatte er im Rahmen des IV. Kongresses des Tschechoslowakischen Schriftstellerverbands Zensur und Absurdität des Machtapparates der kommunistischen Partei erstmals öffentlich kritisiert. Im Frühjahr 1968 avancierte er nun zum Vorsitzenden des Clubs unabhängiger Schriftsteller. Seine Stimme wurde gehört. Umso stärker stand er nach dem abrupten Ende des Prager Frühlings im Fokus der neuen Machthaber. Da er sich dem Gleichschaltungsprozess widersetzte, wurde er mit einem Publikationsverbot belegt. Als Hilfsarbeiter in einer Brauerei verschwand er vorübergehend aus dem öffentlichen Fokus.

Aber natürlich bedeutete das Publikationsverbot für den ambitionierten Autor nicht das Ende seiner schriftstellerischen Aktivitäten. Seine Theaterstücke und Essais erschienen nun im Ausland. Vor allem das Burgtheater in Wien, das Havel bis zu seinem Tod liebevoll sein „Muttertheater“ nannte, entwickelte sich zu einem festen Anker seines Werks. Hier kamen seine neuen Stücke zur Uraufführung und starteten ihren Weg auf zahlreiche Bühnen. Gezählt wurden bis Ende des vorigen Jahrtausends Inszenierungen in achtzehn Ländern. Am häufigsten gespielt wurden die zwischen 1975 und 1979 entstandenen Einakter der Vaňek-Trilogie.

Václav Havel stand zu diesem Zeitpunkt schon wieder mitten in politischen Kämpfen, die zu den härtesten seines Lebens werden sollten. Bereits 1975 attackierte er in einem offenen Brief an Staatspräsident Husák massiv die Zustände in der CSSR. Im folgenden Jahr beteiligte er sich maßgeblich an der Gründung der Bürgerrechtsbewegung Charta 77, die auf die Menschenrechtsverletzungen im Land aufmerksam machen wollte, und wurde zu einem der Sprecher gewählt. Das Ergebnis war eine intensive Verfolgung durch die Staatsmacht, mehrere Verhaftungen, Verurteilungen und insgesamt rund fünf Jahre Haft, letztmals im Frühjahr 1989.
Als Václav Havel 1989 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhielt, durfte er im Oktober 1989 nicht zur Preisverleihung nach Frankfurt reisen. Obwohl der Wandel im Osten sich an vielen Stellen abzeichnete und der Eiserne Vorhang bereits heftig vom Sturm der Zeit angeblasen wurde, blieb er für Havel noch fest geschlossen. In Frankfurt konnte seine Dankesrede nur verlesen werden. Der Titel ist bezeichnend: „Die Macht der Ohnmächtigen.“
Diese Macht der Ohnmächtigen zeigte sich in den folgenden Wochen. Eine Welle von Demonstrationen erfasste das ganze Land. Immer lauter wurde der Ruf nach einem Rücktritt der Regierung und einem grundlegenden Systemwechsel. Auf dem von Menschen überfüllten riesigen Prager Wenzelsplatz skandierte die Menge „Havel auf die Burg“. In der Burg hoch über der Prager Altstadt residierten früher die Könige des Königreichs Böhmen und später die Präsidenten. Und tatsächlich, das System kommt zu Fall, am 29. Dezember 1989 zog Václav Havel tatsächlich als erster nichtkommunistischer Staatspräsident seit 1948 dort ein. Nach Auflösung der Tschechoslowakei wird er in das Amt des Präsidenten der Tschechischen Republik gewählt, das er bis 2003 innehatte. Energisch brachte er sein Land auf einen demokratischen und proeuropäischen Kurs.
Nach seinem Ausscheiden aus dem Amt widmete er sich bis zu seinem Tod 2011 wieder dem Schreiben. Seine Werke stehen bis heute auf den Spielplänen zahlreicher Bühnen. Und selbstverständlich pflegt das Theater am Geländer in Prag die Erinnerung an seinen berühmten Autor. Ebenso an die Tatsache, dass aus diesem Theater heraus ein Stück europäischer Geschichte geschrieben wurde. Da die Stücke mit englischen Untertiteln versehen werden, lohnt sich ein Besuch auch, wenn man der tschechischen Sprache nicht mächtig ist.


Hier geht es zum Theater am Geländer:
Theater am Geländer
Informationen zu Franz Kafka und Prag finden sich hier:
Franz Kafkas Prag
Nur wenige Meter vom Theater am Geländer entfernt finden Sie das Clementinum. Ehemals Kloster der Jesuiten, heute Tschechische Nationalbibliothek. Der barocke Bibliothekssaal gehört zu den schönsten Europas und ist einen Abstecher wert.
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