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Sankt Petersburg

 

19. Station:  - Mit Alexander Puschkin im Café - Sankt Petersburg/Russland
13. September 2020

Europa und Russland? Oder Russland als Teil Europas? Die Definition ist nie ganz einfach und die Einschätzung hängt oft stark vom Standpunkt des jeweiligen Betrachters ab. Entscheidend ist beispielsweise, welche Erfahrungen in den letzten Jahren und Jahrzehnten hinter einem Betrachter oder einem ganzen Land liegen. Geographisch dürfte die Festlegung am einfachsten sein. Europa geht bis zum Ural, jenseits dieses Gebirges beginnt Asien. Das flächenmäßig größte Land der Welt dehnt sich also über zwei Kontinente aus. Auch im historischen Rückblick gab es diese Diskussion nicht. Das russische Zarenreich war ganz selbstverständlich Teil des europäischen Staatensystems. Man verbündete sich oder führte Krieg gegeneinander. Und man heiratete. Zarin Katharina die Große wurde als Prinzessin von Anhalt-Zerbst geboren und auf Empfehlung des preußischen Königs mit dem russischen Thronfolger verheiratet. Zwei württembergische Königinnen des 19. Jahrhunderts wiederum waren russische Prinzessinnen und Cäcilie, die jüngste Tochter des Großherzogs Leopold von Baden, zog im Alter von siebzehn Jahren nach St. Petersburg um einen Zarensohn zu heiraten. Sie wurde zur russischen Großfürstin und nahm dem Namen Olga Fjodorowna an. Und dies sind nur einige Beispiele.

Ganz unstrittig ist im Bereich der Literatur, dass Russland ein fester Bestandteil des europäischen Kulturraums ist. Ohne Tolstoi, Dostojewski oder Tschechow wäre die europäische Literatur unvollständig. Gleichzeitig beeinflussten und prägten sich die Autoren gegenseitig. Tolstoi stand stark unter dem Einfluss der Werke Rousseaus, während er wiederum auf Thomas Mann große Wirkung entfaltete. Dieser bezeichnete Anna Karenina als sein Lieblingsbuch. Bei Dostojewski sind die Einflüsse Shakespeares und Balzacs sichtbar. Umgekehrt ließen sich zum Beispiel der Franzose Albert Camus und der Norweger Knut Hamsun von dem Schöpfer so bedeutender Werke wie „Schuld und Sühne“ oder „Die Brüder Karamasow“ inspirieren. Später im 19. Jahrhundert schwärmten die russischen Romanciers für Victor Hugo und Charles Dickens.

 Zur schnellen Verbreitung der Werke in viele Länder trugen hervorragende Übersetzer viel bei. Schon kurz nach seinem vollständigen Erscheinen 1863 lag Tolstois große Roman „Krieg und Frieden“ in französischer Übersetzung vor. Diese Fassung war die Basis für die englische Ausgabe, die 1865 folgte. Im gleichen Jahr erschien das mehr als 1.600 Seiten dicke Buch auch in deutscher Sprache.
Die gegenseitige Verehrung der Autoren wird auch in vielen Stadtbildern deutlich. Denn selbstverständlich findet sich eine Büste von Leo Tolstoi in Paris. Und Moskau wiederum ehrt Victor Hugo. Wohl am häufigsten von allen russischen Schriftstellern dürften wir in Russland selbst und im europäischen Ausland Alexander Puschkin auf hohen und weniger hohen Denkmalsockeln begegnen. Das Sankt Petersburger Puschkin-Museum machte sich um die Jahrtausendwende daran, Puschkin-Denkmäler in Russland, den weiteren ehemaligen Sowjetrepubliken und in  Europa aufzulisten. Schnell waren sie bei Band fünf ihrer Sammlung angekommen. Deutschland ist unter anderem mit Düsseldorf und Weimar vertreten. Selbstverständlich darf er auch im Garten der Villa Borghese in Rom nicht fehlen.


Und dieser Alexander Sergejewitsch Puschkin ist der Grund unserer Reise nach Sankt Petersburg. In einem Palast direkt am kleinen Fluss Mojka mitten in der Stadt bezog er im Oktober 1836 mit seiner Familie die großzügige Erdgeschoßwohnung. Die Originaleinrichtung des teilweise erhalten. Besonders eindrucksvoll ist das Arbeitszimmer des genialen Poeten. Ob Puschkin die 14.000 Bände allerdings alle noch selbst ins Regal gestellt hat, sei dahingestellt. Wahrscheinlich fehlte ihm die Zeit. Denn ihm blieben bis zu seinem viel zu frühen Tod im Januar 1837 gerade einmal vier Monate in dieser schönen Wohnung. Wir haben die Begegnung mit dem großen Autor also praktisch am Ende seines bewegten Lebens begonnen. Geboren wurde er 1799 in Moskau. Die Aufnahme in das Elitegymnasium des Zaren brachte ihn im Alter von 11 Jahren in die Nähe von Sankt Petersburg. Immer wieder sollte er in seinem weiteren Leben in die Zarenstadt an der Ostsee zurückkehren.

Freiwillige und unfreiwillige Aufenthalte führten ihn aber auch in den Süden Russlands, in die Ukraine, an die Wolga, auf das mütterliche Landgut und nach Moskau. Die Gründe für die auswärtigen Aufenthalte waren vielfältig. Mal waren es Spottgedichte auf Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, mal seine Nähe zu Aufständischen. Dann hielt ihn wieder ein Choleraausbruch in der Provinz. Und die Finanzen waren durchaus öfters desolat als geregelt. Nur die letzten fünf Jahre seines Lebens konnte er dauerhaft in Sankt Petersburg verbringen. Gerade in dieser Zeit entstanden noch viele Werke, die bis heute unvergessen sind. Beispielsweise die Erzählungen „Pique Dame“ oder „Der Postmeister“, der Roman „Die Hauptmannstochter“ und das Drama „Mozart und Salieri“.

Viele Jahre seines unsteten Lebens widmete Puschkin seinem Hauptwerk „Eugen Onegin“, die Geschichte eines jungen, materiell sorglosen und gleichzeitig pflichtfreien Adeligen, der zwischen Langeweile und Überdruss schwankt und durch die Tage irrt. Aus lauter Übermut verschmäht er eine eigentlich perfekte Frau. Erst als es zu spät ist, erkennt er seinen Fehler. Eingebunden ist diese Erzählung in ein realistisches Panorama der Kultur und Gesellschaft Russlands zu Ende des 18. und Beginn des 19. Jahrhunderts. Der Unterschied zwischen Stadt- und Landleben wird deutlich. Traditionen, kulturelle Überlieferungen, Bräuche russischer Art und Aberglauben werden geschildert. Die ganze Handlung bewegt sich im Spannungsfeld zwischen der Bewahrung russischer Traditionen und der Anpassung an die westliche Lebenswelt. Literaturwissenschaftler sprachen schon früh von einer literarischen Enzyklopädie des russischen Lebens. Gerne wird „Eugen Onegin“ auch als russisches Nationalepos bezeichnet.


Die Wirkung des Buchs auf die ersten Leserinnen und Leser verstärkte sich noch durch die Sprache des Werks. In der Folge des napoleonischen Russlandfeldzug 1812 ging Puschkin dazu über, Französisch als Sprache der Literatur zu verlassen und in der russischen Alltagssprache zu veröffentlichen. Puschkin wurde damit zum Begründer modernerer russischer Literatur, ohne den weiten Blick der Intellektuellen zu verlieren. So lässt er den jungen Poeten Lensky, mit dem Onegin in intensivem Kontakt steht, gerade von einer Reise nach Göttingen zurück kehren, wo er Kant, Schiller und Goethe studiert hat. Tatjana, die weibliche Hauptperson der Geschichte, ist eine begeisterte Leserin und sie leiht sich bei Eugen Onegin Bücher aus. Eine ganze Reihe zeitgenössischer und populärer englischer Autoren tritt so in Erscheinung. Unter anderem Lord Byron, an dessen Schaffen sich Alexander Puschkin orientiert. Und natürlich darf auch Goethes Werther in der Lektüre der klugen Tatjana nicht fehlen.

Ging der Schriftsteller bei der verwendeten Sprache neue Wege, so blieb er im Stil bei einer traditionellen Form. Er legte einen Versroman vor, mit dem er sich in eine große europäische Erzähltradition stellte. Die gesamte Geschichte ist in Versen erzählt. Es sind rund 400 Strophen mit je 14 Zeilen. Deutlich ist das Vorbild des römischen Epos Aeneis erkennbar, dessen Autor Vergil wiederum fest auf den altgriechische Heldendichtungen „Ilias“ und „Odysee“ des Homer aufbaut. Und damit entspringt das russische Nationalepos denselben Wurzeln wie viele anderen Epen, wie beispielsweise das Nibelungenlied oder das Rolandslied. Gleichzeitig schuf Puschkin die Figur des „orientierungslosen Menschen“, die nun in die Literatur einging und vielfach übernommen und adaptiert wurde.

Verlassen wir nun Puschkins letzte Wohnstätte und gehen entlang der Mojka zur zentralen Hauptstraße, dem Newski Prospekt. Als erstes stoßen wir dort auf das Literaturcafé St. Petersburg. Seien Sie nicht überrascht, wenn sie hier den Schöpfer des Eugen Onegin im roten Sakko an einem Tisch sitzen sehen, ganz so, als habe er einfach vergessen, nach Hause zu gehen. Es ist nur eine Figur. Das Café mit Konditorei, das zu Beginn des 19. Jahrhunderts von dem französischen Bäcker Valot und der Schweizer Konditor Tobias Branger aus Davos eröffnet wurde, ist stolz auf seinen frühen Stammgast und hält die Erinnerung hoch, denn der rastlose Schriftsteller verkehrte hier regelmäßig. Die große Auswahl internationaler Zeitungen und Zeitschriften ermöglichte eine umfassende und unzensierte Information. Vermutlich deshalb wurde das Café schnell zu einem Treffpunkt von Intellektuellen. Angenehm war, dass auch das gastronomische Angebot stimmte. So gab es hier die erste heiße Schokolade in Russland. Kaffeehäuser und Literaten, diese Kombination funktioniert nicht nur in Wien. Und ein Besuch im Literaturcafé lohnt sich noch heute.


Insgesamt dürfte sich am Newski-Prospekt seit der Zeit Puschkins nicht so viel verändert haben. Man darf dabei nicht vergessen, dass die Stadt erst 1703 gegründet wurde. Zar Peter der Große wollte mit dieser Maßnahme den Anspruch Russlands auf Zugang zur Ostsee durchsetzen. Bereits 1712 wurde sie zur Hauptstadt erhoben. Intensive Bautätigkeiten in den folgenden 100 Jahren schufen rund um den Fluss Neva das Stadtbild, das uns heute in seiner Geschlossenheit so schnell gefangen nimmt und in der Kombination von Gebäuden und Wasser den Beinamen Venedig des Nordens erhalten hat.

Ein anderer großer russischer Schriftsteller, der von Puschkin stark geförderte Nikolai Wassiljewitsch Gogol, hat die zentrale Hauptstraße, die vom Palastplatz mit dem Winterpalast im Westen über 4,5 Kilometer bis zum Alexander-Newski-Kloster im Osten führt,  mit seiner Erzählung „Newski-Prospekt“ 1835 verewigt. Nimmt man dieses Buch zur Hand, stellt man schnell fest, dass nicht nur die Gebäude nahezu unverändert sind. Auch knapp 200 Jahre nachdem Gogol seine Beobachtungen zu Papier brachte, treffen auf diesem Boulevard noch die unterschiedlichsten Bevölkerungsgruppen, vom mitleidsuchenden Bettler bis zur standesbewussten Offiziersgattin und vom selbstbewussten Kaufmann bis zur abenteuerlustigen jungen Frau aufeinander. Und wie in der alten Erzählung klaffen Sein und Schein auch heute noch an diesem prächtigen Ort immer wieder auseinander.

Wem der Trubel in der zweitgrößten russischen Metropole zu viel wird, dem sei eine Tour nach Süden, Richtung der Grenzen zu Estland und Lettland empfohlen. Hier erwartet uns das Landgut Michailowskoje, das Landgut de Familie von Puschkins Mutter, auf dem der Autor zeitweilig lebte und große Teile seines „Eugen Onegin“ schrieb. Das Gutshaus wurde im 2. Weltkrieg beschädigt, anschließend aber detailgetreu restauriert und als Museum eröffnet. Unter anderem sind die vornehm eingerichteten Wohnräume und das Arbeitszimmer des Dichters zu besichtigen. Der ganzen Anlage mit Wirtschaftsgebäuden, Lindengassen, Teichen und Brücken sagt man nach, dass sie noch aussehe wie zu Puschkins Zeiten.



Gleiches gilt für das umgebende Dorf. Da Puschkin in seinem Versroman ja das Leben auf dem Lande und das städtische Leben bewusst einander gegenüber gestellt hat, ist der Besuch auf dem Landgut die authentische Ergänzung zum Aufenthalt in Sankt Petersburg.


Wenige Kilometer weiter, im Kirchhof des Swjatogorski Klosters, fand der große Autor seine letzte Ruhe. Und dies sogar auf Anordnung des Zaren. Es muss beinahe als Ironie des Schicksals gesehen werden, dass Puschkin starb, wie er es für eine zentrale Figur seines Romans, den Wladimir Lensky, aufgeschrieben hatte. Beiden, Romanfigur und Autor, war ihr Schicksal in einem Duell beschieden. Glaubt man seriösen Zählungen, war es sein 29. Duell, bei dem Alexander Puschkin im Januar 1837 schwer verwundet wurde. Drei Tage rang er noch in seiner Wohnung an der Mojka mit dem Leben. Da die Menschen in Massen dorthin strömten, um sich von dem großen Russen zu verabschieden, befürchtete Zar Nikolaus I., dass die Trauerbekundungen für den überaus populären Dichter vollkommen aus dem Ruder laufen würden und ordnete das stille Begräbnis auf dem Lande an. Das ganze Gebiet rund um Landgut und Kloster mit einer zentralen Stadtgemeinde und 188 Dörfern heißt heute zu Ehren des Schriftsteller Puschkinskije Gory – Puschkin Berge. Würdiger kann man einem Großen kaum gedenken. Und deutlicher kann die Wertschätzung für bedeutende Literatur und ihre Schöpfer kaum zum Ausdruck gebracht werden.


Wunderschöne Blicke auf Sankt Petersburg bieten sich bei einem Drohnenflug über die Stadt.

Drohnenflug über Sankt Petersburg

Das Literaturcafé Sankt Petersburg kann auch im Internet besucht werden:

Literaturcafé Sankt Petersburg
Peter Tschaikowski hat den Versroman "Eugen Onegin" zu einer Oper verarbeitet. Eine komplette Inszenierung des weltberühmten Sankt Petersburger Mariinski-Theaters kann online abgerufen werden. Die Abspieldauer beträgt 2 Stunden und 45 Minuten.
Zur Opernaufführung Eugen Onegin Zurück zur Reiseübersicht
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