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Vilnius

 

10. Station:  Mit Czesław Miłosz durch die Geschichte - Vilnius/Litauen
12. Juli 2020

Als „Grenzland der Sprachen, Menschen und Kulturen“ bezeichnete der Literaturnobelpreisträger Czesław Miłosz die litauische Hauptstadt Vilnius und ihre Region, in der er in den Jahren vor dem 2. Weltkrieg seine Kindheit und Jugend verbrachte. Verschiedene Völker trafen hier aufeinander, in allen Epochen erhoben unterschiedliche Fürsten und Staaten Besitzansprüche. Alleine im 20. Jahrhundert ging das Gebiet dreizehnmal von einer Hand in die andere. Deutsche, polnische und sowjetische Besatzungen prägten die Region. Als in der Zeit nach dem 1. Weltkrieg sich erstmals in diesem bewegten Jahrhundert ein selbständiger Staat Litauen bildete, durfte die alte Hauptstadt des einstmals glanzvollen Großfürstentums Litauen nicht dabei sein. Sie wurde durch Polen besetzt. Nach dem 2. Weltkrieg wurde sie als Hauptstadt der Litauischen Sozialistischen Sowjetrepublik der Sowjetunion eingegliedert. Mit dem Werk von Czesław Miłos begeben wir uns auf Spuren der Geschichte der Stadt Vilnius, auf Deutsch früher Wilna genannt.

Für viele Gäste der litauischen Hauptstadt Vilnius beginnt ein Rundgang durch die historische Altstadt unterhalb des Burghügels, bei der Kathedrale. Das leuchtend weiße Gebäude, mit dem markant abgesetzt und frei stehenden Glockenturm, geht bis ins 13. Jahrhundert zurück und gehört zu den ältesten Kirchenbauten Nordosteuropas. Zwischen Kirche und Turm fallen im Bodenbelag die roten Granitplatten auf, die die große graue Fläche durchbrechen und einem bestimmten Muster zu folgen scheinen. Und tatsächlich sind sie nicht irgendwie zufällig auf diesem Platz verteilt. Sie erinnern an den Startpunkt der längsten Menschenkette in der Geschichte der Menschheit, die hier am 23. August 1989 ihren Ausgangspunkt hatte.
An die zwei Millionen Menschen waren an diesem Tag auf den Straßen und schlossen eine über 600 Kilometer lange Menschenkette durch das Baltikum, von Vilnius bis nach Tallin, durch die Sowjetrepubliken Litauen, Lettland und Estland. Am 50. Jahrestag des Hitler-Stalin-Paktes, dessen Geheimes Zusatzprotokoll diese damals selbständigen Staaten der Sowjetunion zusprach, protestierten die Menschen friedlich gegen Unterdrückung und für Freiheit und Unabhängigkeit. Wer die Geschichte des Zerfalls der Sowjetunion und des Warschauer Pakts analysiert, kann an diesem Tag nicht vorbei gehen. Für die Menschen im Baltikum bot sich in den folgenden Monaten die Chance auf Neugründung ihrer Länder. Es war der entscheidende Schritt zur so lange ersehnten Unabhängigkeit ihrer Länder und der erste Schritt hin in eine europäische Gemeinschaft.
Wer durch die Straßen und Gassen der Altstadt bummelt, ist beeindruckt von dem malerischen Bild, das sich ihm bietet. In vielen der 70 Straßen hat sich nahezu die komplette Bausubstanz aus der glanzvollen Zeit als großfürstliche Hauptstadt erhalten. Schön renovierte Kirchen wechseln sich mit kleinen, nicht minder blitzenden Stadtpalästen und behaglich ausschauenden Bürgerhäusern ab. Auch die Zeit als Teil des russischen Kaiserreichs, die mit der Aufteilung des Vielvölkerstaates Polen-Litauens 1795 durch Preußen, Russland und Österreich begann und über 100 Jahre dauerte, hat viele positive Spuren im Stadtbild hinterlassen. Die Zerstörungen des 2. Weltkriegs wiederum wurden innerhalb der Altstadt größtenteils dezent ausgeglichen und die Bausünden der sozialistischen Zeit spielen sich von wenigen Ausnahmen abgesehen außerhalb des historischen Stadtkerns ab. Wären nicht die modernen Auslagen in den Geschäften und die bunten Sonnenschirme der Cafés und Lokale, könnte man meinen, die Stadt hätte sich in den letzten 150 Jahren so gut wie gar nicht verändert. Wie falsch diese Einschätzung ist, zeigt sich, wenn man sich in eines der schönen Cafés setzt und beginnt, in dem Buch „Die Straßen von Wilna“ von Czesław Miłosz zu lesen.
Vergleichen wir diese Aufzeichnungen beispielsweise mit dem Bild, das die Universität uns bietet. Nur wenige Minuten sind es von der Kathedrale bis zu diesem riesigen Gebäudeensemble mit dem stadtbildprägenden Turm der barocken Universitätskirche St. Johannes. 1579 gegründet, gehörte sie zu den ältesten und über viele Jahrhunderte zu den besten Universitäten Osteuropas. Die Mauern sind noch so dick wie zu Zeiten, als der junge Czesław hier 1930 seine ersten Gedichte in einer Studentenzeitung veröffentlichte. Noch immer führt der Weg zu den Hörsälen durch ein Labyrinth von schier undurchschaubaren Innenhöfen. Und noch immer überwältigen einen die wunderbar ausgestatteten Lesesäle der Universitätsbibliothek. Einige der schönsten der 180.000 mittelalterlichen Handschriften aus dem Bibliotheksbestand sind hier ausgestellt. Und doch ist es eine ganz andere Universität als diese es in den Jahren war, als der spätere Nobelpreisträger hier für seine Examen büffelte. Das von Miłosz beschriebene studentische Leben in der Uni und rund um die Uni findet sich so nicht mehr.
Noch deutlicher wird der Unterschied, wenn man von der Universität weiter die leicht ansteigende Altstadt hinauf geht und beim klassizistischen Rathaus rechts in die Vokiečių gatvė, die Deutsche Straße, abbiegt. „Die Straßen von Vilnius“ widmet sich dieser Straße und dem sich auf beiden Seiten anschließenden Gewirr von Gässchen ausführlich. Nur die Deutsche Straße selbst hat sich in den Jahren nach dem zweiten Weltkrieg deutlich verändert. Sie wurde breiter und manches der alten Gebäude wurde ersetzt. Baulich unverändert sind aber die vielen kleinen Gassen. Und doch sind sie andere geworden. Misłow beschreibt das dicht gedrängte Leben in diesen engen Gassen, in denen man den Eindruck gehabt habe, „jedes einzelne Haus berge eine unübersehbare Zahl von Bewohnern in seinem Inneren, die allen erdenklichen Berufen nachgingen.“ Weiter erzählt er von den zahlreichen Ladengeschäften und Dienstleistungen, die oft bis zu drei Innenhöfen tief in die Gebäude hinein angesiedelt waren. „Der Handel ergoß sich aus den Häusern auf die Straße, er brodelte rund um handgeschobene Wägelchen, und hier und da, an einer Biegung des Trottoirs, um ein paar Stände.“ Lange könnte das Zitat mit der plastischen Beschreibung des Lebens in diesem Teil der Stadt noch weiter fortgesetzt werden. Es sind Straßen, in denen viele der jüdischen Einwohner von Vilnius wohnten. Schon im Mittelalter hatten sich Juden, die vor der Verfolgung in Deutschland flohen, in Osteuropa niedergelassen. Vilnius entwickelte sich zu einem der wichtigsten Zentren jüdischer Kultur überhaupt. Man sprach vom Jerusalem des Nordens und um 1900 waren ca. 40% der Einwohner der Stadt jüdischen Glaubens. Sie prägten das Stadtbild und Leben in den Straßen in dieser Zeit. Synagogen und Kirchen wechselten sich in den Straßen ab.

In seinem Briefwechsel mit seinem litauischen Schriftstellerkollegen Tomas Venclova, der unter dem Titel „Dialog über Litauen“ veröffentlicht wurde, schriebt Miłosz über die Stadt seiner Jugend: „Wichtig, wenn wir von Wilno reden: es war in erheblichem Maße eine jüdische Stadt. In ganz anderer Weise als Warschau. Das jüdische Viertel in Wilno, das war ein Labyrinth aus engen, mittelalterlichen Gassen, Häuser, durch Säulengänge verbunden, das holprige Pflaster zwei, vielleicht drei Meter breit.“
 Die jüdische Stadt gehört heute der Vergangenheit an. Schon eine Woche nach ihrem Überfall auf die Sowjetunion erreichten die deutschen Truppen im Juni 1941 Vilnius. Links und rechts der deutschen Straße wurden in dem gerade beschriebenen Gebiet das jüdische Ghetto Vilnius eingerichtet. Bald folgten die ersten Deportationen in Konzentrationslager. Die letzten verbliebenen Bewohner wurden im September 1943 in Lager in Estland und Lettland verbracht. Kaum ein jüdischer Mitbürger überlebte in Wilna. Zwei Jahre genügten, um eine sechshundert Jahre alte Tradition auszulöschen. Und heute? Das ehemalige jüdische Viertel präsentiert sich gut saniert, ruhig und gepflegt. Es finden sich ein nobles Hotel, in dem in den letzten Jahren Könige und Staatspräsidenten abgestiegen sind, feine Geschäfte, die sich am Bedarf der zahlreichen Touristen orientieren, und etliche lebendige  Studentenkneipen. Gedenktafeln erinnern an das vergangene und ausgelöschte jüdische Leben. Ein Museum erinnert an die sechshundert Jahre lebendiger jüdischer Kultur. Von den einstmals 96 Synagogen im Stadtgebiet ist eine einzige erhalten geblieben. Hier trifft sich heute wieder eine kleine jüdische Gemeinde zum Gebet.
In dem zitierten Briefwechsel stellen die beiden litauischen Autoren fest, dass sie von ganz unterschiedlichen Städten schrieben, wenn sie sich mit Vilnius befassen würden. Sie machten dies an dem großen Wechsel von Bevölkerung, Sprache und Zivilisationsmodell fest. Geblieben seien lediglich das Flussufer, die Bäume und die Architektur. Venclova ist Jahrgang 1937. Als er geboren wurde, hatte der 26 Jahre ältere Miłoz Vilnius bereits verlassen. Dieser teilte das Schicksal so vieler Menschen im 20. Jahrhundert, deren Lebenslauf von Flucht oder Emigration geprägt war. Den 2. Weltkrieg hatte er im Untergrund in Warschau überlebt. 1951 setzte er sich in den Westen ab. Erst nach Frankreich, später in die USA. Dort wirkte er viele Jahre an der hochrenommierten Universität in Berkeley/Kalifornien als Professor für Slawistik.

 Mitte der sechziger Jahre machte sich Miłosz daran, seine Erinnerungen an die Stadt seiner Kindheit und Jugend aufzuschreiben. Zu diesem Zeitpunkt hatte er Vilnius rund dreißig Jahre nicht mehr betreten. Erst später, nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Systems, sollte dies wieder möglich werden. Über dieses Wiedersehen schrieb er: „Als ich nach über einem halben Jahrhundert an meinen Geburtsort und nach Wilna zurückkehrte, schloß sich für mich ein Kreis. Ich war dankbar, dass ich ein derart überwältigendes Ereignis mit der Vergangenheit feiern durfte, obwohl die Wucht und die Komplexität dieses Erlebnisses alle Möglichkeiten meiner Sprache überstieg.“
 Die verlorene Heimat prägte das Schaffen des polnisch-litauischen Nobelpreisträgers von 1980 an vielen Stellen. So setzte er dem ländlichen Litauen der vergangenen, vorsowjetischen Zeit mit seinem stark autobiographisch geprägten Roman „Das Tal der Issa“ ein Denkmal. Der Junge Thomas, der viel Zeit im Herrenhaus seines Großvaters verbringt, ist niemand anders als der kleine Czesław. Und die Issa ist in Wirklichkeit die Nevėžis, ein kleiner Nebenfluss der Memel. Die wilde, in weiten Teilen noch nicht kultivierte Landschaft des nördlichen Ostens mit Bären, Elchen, Schlangen und Wölfen bildet den Rahmen dieser dichten Erzählung. Man geht auf die Jagd, webt seine Kleider und zieht seine Kerzen selber. Teufel und Geister spuken durch den Roman und vermitteln einen Einblick in die Sagen- und Mythenwelt des alten Litauens. Ein anderer Nobelpreisträger, Albert Camus, mit dem sich Miłosz während seiner Zeit in Frankreich anfreundete, fühlte sich bei diesem Roman an den russischen Großautor  Tolstoi erinnert, als dieser über seine Kindheit schrieb.
Ein Blick auf diese Zeit wäre unvollständig ohne einen Blick auf die Sprachvielfalt dieser Jahre. Die Schulen differenzierten sich über die unterschiedlichsten Unterrichtssprachen: Polnisch, Litauisch, Russisch, Jiddisch und Hebräisch. An der Universität war die offizielle Unterrichtssprache Polnisch, nachdem sie zuvor Russisch war. Die Gastprofessoren aus Deutschland oder Frankreich hielten ihre Vorlesungen aber ganz selbstverständlich in ihrer Muttersprache. Miłosz verfasste seine Werke alle in polnischer Sprache, selbst, als er bereits viele Jahre in den USA lebte. Er bezeichnete sich als polnisch schreibenden Litauer. In seinem Alterswerk „Mein ABC“, das eine große Autobiographie ersetzen sollte, bemerkte er: „Meine Weigerung, mich umzustellen und in einer anderen Sprache zu schreiben, könnte auch ein Zeichen meiner Furcht vor einem Identitätsverlust gewesen sein – denn es ist sicher so, dass man ein anderer wird, wenn man eine andere Sprache annimmt“. Und genauso wird natürlich eine Stadt eine andere, wenn die Zusammensetzung der Sprachen sich dort ändert.
Kombiniert man den Gang durch die Stadt mit den Büchern von Czesław Miłosz, wird einem deutlich, von wie vielen Verflechtungen der europäische Kulturraum geprägt ist. Es wird aber auch deutlich, dass er sich über Jahrhunderte nur durch ein Miteinander und Nebeneinander ganz unterschiedlicher Sprachen, kulturellen Erfahrungen und Religionen bilden konnte und wie schmerzhaft die Entwicklung einer Nationalstaatlichkeit mit unterschiedlichen Ansprüchen und Begehrlichkeiten stets sein konnte.
Ein schöner Stadtrundgang durch Vilnius findet sich hier:
Vilnius
Zum Jüdischen Museum in Vilnius:
Jüdisches Museum Vilnius Zurück zur Reiseübersicht
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