Noch deutlicher wird der Unterschied, wenn man von der Universität weiter die leicht ansteigende Altstadt hinauf geht und beim klassizistischen Rathaus rechts in die Vokiečių gatvė, die Deutsche Straße, abbiegt. „Die Straßen von Vilnius“ widmet sich dieser Straße und dem sich auf beiden Seiten anschließenden Gewirr von Gässchen ausführlich. Nur die Deutsche Straße selbst hat sich in den Jahren nach dem zweiten Weltkrieg deutlich verändert. Sie wurde breiter und manches der alten Gebäude wurde ersetzt. Baulich unverändert sind aber die vielen kleinen Gassen. Und doch sind sie andere geworden. Misłow beschreibt das dicht gedrängte Leben in diesen engen Gassen, in denen man den Eindruck gehabt habe, „jedes einzelne Haus berge eine unübersehbare Zahl von Bewohnern in seinem Inneren, die allen erdenklichen Berufen nachgingen.“ Weiter erzählt er von den zahlreichen Ladengeschäften und Dienstleistungen, die oft bis zu drei Innenhöfen tief in die Gebäude hinein angesiedelt waren. „Der Handel ergoß sich aus den Häusern auf die Straße, er brodelte rund um handgeschobene Wägelchen, und hier und da, an einer Biegung des Trottoirs, um ein paar Stände.“ Lange könnte das Zitat mit der plastischen Beschreibung des Lebens in diesem Teil der Stadt noch weiter fortgesetzt werden. Es sind Straßen, in denen viele der jüdischen Einwohner von Vilnius wohnten. Schon im Mittelalter hatten sich Juden, die vor der Verfolgung in Deutschland flohen, in Osteuropa niedergelassen. Vilnius entwickelte sich zu einem der wichtigsten Zentren jüdischer Kultur überhaupt. Man sprach vom Jerusalem des Nordens und um 1900 waren ca. 40% der Einwohner der Stadt jüdischen Glaubens. Sie prägten das Stadtbild und Leben in den Straßen in dieser Zeit. Synagogen und Kirchen wechselten sich in den Straßen ab.
In seinem Briefwechsel mit seinem litauischen Schriftstellerkollegen Tomas Venclova, der unter dem Titel „Dialog über Litauen“ veröffentlicht wurde, schriebt Miłosz über die Stadt seiner Jugend: „Wichtig, wenn wir von Wilno reden: es war in erheblichem Maße eine jüdische Stadt. In ganz anderer Weise als Warschau. Das jüdische Viertel in Wilno, das war ein Labyrinth aus engen, mittelalterlichen Gassen, Häuser, durch Säulengänge verbunden, das holprige Pflaster zwei, vielleicht drei Meter breit.“