Die klare Grundstruktur der Stadt mit dem vom Meer streng gerade ostwärts verlaufenden Fluss Liffey und den ihn in Nord-Süd-Richtung kreuzenden Hauptstraßen macht die Orientierung leicht. Zahlreiche Brücken prägen das Stadtbild rund um den Liffey und laden dazu ein, zwischen den links und rechts des Flusses gelegenen Schauplätzen der Erzählung hin und her zu bummeln.
So stehen wir vor der Irischen Nationalbibliothek und versuchen vielleicht wie Bloom einen Blick hineinzuwerfen, der sich hier nicht den Büchern, sondern der Betrachtung einer antiken Statue widmete. Dabei verpasste er dann eine spannende und weitgehende Unterhaltung über die Literaturgeschichte, die andere wichtige Charaktere des Romans führen und die sich die großen Namen der Weltliteratur, von Boccaccio, Cervantes und Goethe bis hin zu Dumas und Shaw nur so um die Ohren schlagen. In der Duke Street können wir im Davy Byrne’s Pub einkehren und wie Bloom ein Gorgonzola-Sandwich mit einem Glas Burgunder zum Mittagessen bestellen. Auf keinen Fall versäumen dürfen wir die kleine , früherer Apotheke Sweny’s am Lincoln Place. Hier kaufte Leopold Bloom ein Stück Zitronenseife. Nachdem die Apotheke 2009 aufgegeben wurde, übernahmen freiwillige Literaturliebhaber den Ladenraum und richteten in der originalerhaltenen Ladeneinrichtung ein literarisches Antiquariat und einen Souvenirshop ein. Die Zitronenseife wird heute noch nach dem gleichen Rezept hergestellt und ist DAS Souvenir für Dublin reisende Joyce-Fans.
Im Norden Dublins haben wir nun das Gebäude Eccles Street Nr. 7 erreicht. Auch Leopold Bloom beendete hier seine Reise durch den Tag. Hier stand nämlich sein Wohnhaus. Leider wurde es abgerissen. Die Original-Haustür befindet sich heute im James-Joyce-Centre, das einige Häuser weiter in einem herrlichen alten Georgian Town House in der North Great George´s Street eingerichtet wurde. Es ist überliefert, dass Joyce als Kind mehrmals in diesem Haus, das Bekannten seiner Eltern gehörte, verkehrt ist. Heute ist hier ein Museum für den berühmten Sohn der Stadt und ein lebendiges Literaturzentrum eingerichtet.
Wer auf den Spuren des weltberühmten Romans wandelt, sollte einen kleinen Abstecher in den Dubliner Küstenvorort Sandycove einplanen. Hier erwarten uns zwei weitere Schauplätze. Auf den Steinen des Strandes von Sandycover gönnte sich Leonard Bloom am späten Nachmittag des besagten Tages eine Auszeit mit dem Beobachten von Mädchen und Feuerwerk. So eine kleine Auszeit in der frischen Meeresluft kann auch heute noch eine angenehme Unterbrechung eines anstrengenden Stadttages sein.
Und nicht verpassen dürfen Sie den Joyce Tower. In diesem Befestigungsturm aus dem 18. Jahrhundert mit den dicken, runden Mauern ist heute ein weiteres Joyce-Museum eingerichtet. Der Schriftsteller lebte hier 1904 sechs Tage bei einem Freund, dem Medizinstudenten und Hobbyschriftsteller Oliver St. John Gogarty. Diesen Schriftsteller verewigte er in seinem Roman in der Person des Buck Mulligan. Dies macht uns auf eine weitere Besonderheit dieses Buchs aufmerksam. Die meisten Figuren der Erzählung können real existierenden Personen zugeordnet werden. So verbirgt sich hinter der zentralen weiblichen Figur Molly Bloom niemand anders als Nora Barnacle, die Lebensgefährtin und spätere Ehefrau von James Joyce. Dieser wiederum begegnet uns in der Rolle des Lehrers Stephen Dedalus. Und auch das Datum des 16. Juni 1904 hatte eine Bedeutung. Seit diesem Tag waren Joyce und Barnacle ein Paar.
Wer zufälligerweise gerade einmal an einem 16. Juni in Dublin ankommt, wird überrascht feststellen, dass ihm das Personal des Romans und sein Schöpfer in den Straßen ganz leibhaftig begegnen können. Dies ist keine Fata Morgana, verursacht durch zu intensive Romanlektüre bei der Vorbereitung der Reise. Vielmehr ist der Gast genau in die Feierlichkeiten des Bloomsdays hineingeraten. Seit vielen Jahren wird der Tag, den James Joyce so intensiv beschrieben hat, feucht und fröhlich gefeiert. Liebhaber des Ulysees kleiden sich stilgerecht und schlüpfen für einen Tag in die Rolle des James Joyce oder einer seiner Figuren und besuchen die Stationen des denkwürdigen 16. Junis 1904. Weltweit dürfte dies der einzige einem Roman gewidmete Feiertag sein.
Dieses Nachleben seiner Person und seines Werks in Dublin hatte Joyce vielleicht persönlich erwartet, denn er war von sich durchaus überzeugt. Vorhersehbar war es aber nicht. Eigentlich sprach so gut wie alles dagegen. Im Herbst 1904, wenige Monate nach dem für ihn persönlich und seinen Roman so wichtigen 16. Juni 1904, hatte er Irland im Alter von 22 Jahren verlassen. Für sein literarisches Wirken sah er in diesem Land keine Zukunft. Auch sah er seine eher freizügigen Lebensvorstellungen in dem von der katholischen Kirche stark geprägten Land zu sehr eingeschränkt. Nur noch zu wenigen kurzen Besuchen kehrte er zurück. Letztmals im Alter von 30 Jahren 1912. Wie recht Joyce mit seiner Einschätzung liegen sollte, zeigte sich, nachdem ab 1918 erste Auszüge aus „Ulysees“ in amerikanischen und britischen Zeitungen veröffentlicht wurden. Die detailgetreuen Schilderungen verschiedener Lebenssituationen wurden als obszön eingestuft und das Werk wurde kurzerhand in diesen Ländern verboten. Da Irland damals noch Teil des Britischen Königreichs war, blieb Joyce damit für seinen englischsprachigen Roman nicht nur der Markt der Originalsprache verschlossen. Auch sein Heimatmarkt, der gleichzeitig Ort der Handlung war, konnte auf nicht absehbare Zeit nicht genutzt werden. Die Suche nach einem Verlag für das sperrige Gesamtwerk wurde damit praktisch unmöglich gemacht. Niemand wollte das Risiko eingehen, dieses Manuskript zu verlegen. Zu unwahrscheinlich erschien ein Erfolg. Schon der Text selbst wurde als schwer verkäuflich eingestuft. Und nun war auch noch der einzig möglich erscheinende Markt weggebrochen.
Da war es ein Glück, dass Joyce in Paris, wo er seit 1920 lebte, die Amerikanerin Sylvia Beach traf. Diese hatte ein Jahr zuvor die erste englischsprachige Buchhandlung und Leihbücherei in der Stadt an der Seine eröffnet. „Shakespeare and Company“, so der Name, entwickelte sich schnell zu einem zentralen Treffpunkt der britischen und amerikanischen Intellektuellen in Paris. Alleine schon die Tatsache, dass die Räume im Winter geheizt waren, veranlasste manchen der auf den großen Erfolg wartenden Autoren, ganze Tage hier zu verbringen. So auch Ernest Hemingway, der Stammgast bei Sylvia Beach war und dem wir eine lebendige Schilderung des Buchhandlungsbetriebs verdanken, die in seinem Erinnerungsband „Paris, ein Fest fürs Leben“ veröffentlicht ist. Mit viel Wärme schildert er die Empathie, die die Buchhändlerin den Schriftstellern entgegenbrachte, und dies war wohl die Rettung für James Joyce. Beach ermunterte ihn, seinen ausufernden Roman fertigzustellen. Und als sich kein Verlag fand, wurde sie zur Verlegerin. Am 2. Februar 1922 konnte sie dem Autor zu seinem vierzigsten Geburtstag ein ganz besonderes Geschenk übergeben: die ersten beiden frischgedruckten Exemplare seines Buchs. Siebenhundertzweiunddreißig Seiten und rund eineinhalb Kilo schwer war es. Unter welch schwierigen Bedingungen die Erstveröffentlichung stand, wird auch durch den Zettel deutlich, den der Drucker den ersten Exemplaren beilegte. Er entschuldigt sich dafür, dass auf jeder Seite bis zu einem halben Dutzend Druckfehler enthalten sein können. Die Zeit drängte und der des Englischen unkundigen Drucker war bei allem Fleiß mit dem Mammutwerk wohl schlichtweg überfordert.
Was machte nun den eigentlich unmöglichen Erfolg dieses sperrigen Buchs aus, dem nachgesagt wird, dass es meist ungelesen die Bücherregale der bildungsbürgerlichen Haushalte ziere, und das auch als das berühmteste nichtgelesene Werk der Weltliteratur bezeichnet wird?
Vermutlich hängen die bahnbrechende Wirkung in der Literatur und die große Herausforderung der Lektüre eng zusammen. Joyce sprengte mit seinem Werk in Inhalt und Form jegliche Konvention und schuf einen Meilenstein der Literaturgeschichte auf dem Weg zum modernen Roman. Der Monolog der Molly Bloom im letzten Kapitel über je nach Übersetzung und Ausgabe 65 bis 85 Seiten ohne jedes Satzzeichen kann symbolisch für diese Neuartigkeit und gleichzeitig schwere Lesbarkeit stehen. Joyce perfektionierte mit diesem Monolog die sogenannte Erzählform des Bewusstseinsstroms. Ganz direkt und ohne verzerrende Perspektive eines Erzählers erfahren die Leserinnen und Leser somit die Gedanken der berichtenden Person. Nicht verwegen wäre es zu sagen, dass damit die direkte Erzählung des klassischen Briefromans in die Moderne katapultiert wurde. In seinem Buch fügte Joyce eine schier unüberschaubare Fülle an Gedankenblitzen, flüchtigen Ideen, Erinnerungen, Beobachtungen, Gefühlen und Wünschen zu einem riesigen Gesamtwerk zusammen. Gleichzeitig führt jeder Eindruck und jedes Gefühl zu einem kurzen Nachdenken beim jeweiligen Akteur. Der Einfluss der Psychoanalyse, die in diesen Jahren sehr viel öffentliche Aufmerksamkeit auf sich zog, ist unverkennbar. Welch hohes Ziel der irische Autor in Paris mit seinem Ulysees verfolgte, zeigt sich auch daran, dass er es bewusst in die Tradition des Urwerks der europäischen Erzählliteratur stellte, nämlich den Reiseepos Odysee von Homer. Aus der zehnjährigen Irrfahrt durch das Mittelmeer wurde der eine Tag in Dublin. Jedes der 18 Kapitel des Ulysees kann einer Episode aus der Odysee zugeordnet werden. Plastischer kann ein hoher Anspruch nicht formuliert werden.
Und tatsächlich entstand ein Werk für die Ewigkeit, das Einfluss auf Generationen von Autoren ausübte. Für alle Literaturfreunde, die bisher das Buch immer wieder nach wenigen Seiten in das Regal zurück gestellt haben, soll hier der Rat einer erfahrenen Literaturwissenschaftlerin weitergegeben werden: man solle sich nie den ganzen Ulysees vornehmen. Das Ziel solle immer nur ein Kapitel sein und vor dem nächsten Kapitel sollten wieder andere Bücher gelesen werden. Mindestens einen Versuch müsste diese Taktik wert sein.
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