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Gjirokastra

 

18. Station:  - In der Stadt der Steine - Gjirokastra/Albanien
06. September 2020

Albanien dürfte für viele Europäer eine eher unbekannte Größe unter den europäischen Staaten sein. Dabei hat das Land im Südosten Europas, das etwas kleiner als Belgien ist, viel zu bieten. Zahlreiche, nahezu unberührte Sand- und Kiesstrände verteilen sich entlang der über 300 Kilometer langen Mittelmeerküste. Nur wenige Meter oder Kilometer im Landesinneren beginnen die ersten Anstiege und führen in eine herrliche und abwechslungsreiche Berglandschaft, die fast die Hälfte des Landes einnimmt und in den nordalbanischen Alpen bis auf 2.764 Meter hoch führt. Gerade in den höheren Lagen sind weite Teile des Landes unberührt und bieten Platz für eine großartige und vielfältige Flora und Fauna. 14 Nationalparks sind ein deutliches Zeichen dafür. Singvögel nutzen die versteckt gelegenen Seen als Zwischenstation auf ihrem jährlichen Vogelzug und ganz selbstverständlich sind Adler, Bären und Wölfe nie aus diesen Regionen verschwunden. Trotz dieser reichen Natur wird Albanien gerne mit Steinen und steinigen Landschaften in Verbindung gebracht. Und auf die Spur solcher Steine machen wir uns heute. Die kleine Stadt Gjirokastra ganz im Süden des Landes, rund 30 Kilometer von der griechischen Grenze entfernt, ist das Ziel unserer Reise. Sie trägt den Beinamen „Stadt der Steine“.
Wer die Stadt erkunden möchte, dem sei gutes und stabiles Schuhwerk angeraten, denn von den Flussauen am unteren Ende der Stadt bis zum oberen Ende der Siedlungslandschaft sind es rund zweihundert Höhenmeter, die über steile, gepflasterte Straßen zu bewältigen sind. Die Architektur der Häuser ist beeindruckend. Sie sind praktisch in den Hang hineingebaut und greifen die Steigungen ihres Grundstücks über ein oder zwei Etagen auf. Hohe Holzfenster und riesige hölzerne Hoftore verstärken die imposante Wirkung der Gebäude, die teilweise an Trutzburgen erinnern. Hinter den Toren finden sich dann, wie in vielen Regionen des Balkans üblich, oft mehrere kleine Innenhöfe. Besonders reizvoll wird es, und dies ist wieder eine Folge der extremen Topographie, wenn sich diese Innenhöfe über mehrere Ebenen verteilt. Bedeckt sind die Dächer mit flach geschlagenen, hellen Steinplatten, die aus dem nahen Gebirge stammen. Diese Lösung war kostengünstiger als die Verwendung von Dachziegeln und gleichzeitig vollendet sie natürlich das Bild der steinernen Stadt.

Hoch über diesen Dächern erhebt sich die riesige Burganlage. Auch wenn Teile der vor allem in byzantinischer und osmanischer Zeit wichtigen Burg nur als Ruine erhalten sind, ist die Wirkung die vom Burgberg ausgeht unverändert und gewaltig. Gemeinsam mit der Stadt strahlen die Reste der alten Burg noch viel von Reichtum und Bedeutung vergangener Tage aus. Als seltenes Beispiel einer gut erhaltenen Stadt aus Osmanischer Zeit erfolgte dann 2005 die Eintragung in die Liste des UNESCO Weltkulturerbes.

Wir haben uns auf den Weg nach Gjirokastra gemacht um den Spuren von Ismail Kadare zu folgen. Bei ihm handelt es sich um den wohl bekanntesten Schriftsteller des Landes und um einen wichtigen Protagonisten albanischer Kultur und Geschichte, wurde sein Werk doch in fünfundvierzig Sprachen übersetzt. Kadare wurde 1936 in einem dieser für die Altstadt so typischen Häuser geboren und verbrachte in dieser Stadt seine Jugend, bis er zum Studium in die Hauptstadt Tirana aufbrach.

Unter anderem erlebte und überlebte er hier im Zweiten Weltkrieg italienische, griechische und deutsche Besatzung. Seine Erinnerung an seine Jugendjahre hat er in dem stark autobiografisch geprägten Roman „Chronik in Stein“ aufgeschrieben. Schon auf dem Titel taucht also der für die Stadt so wichtige Stein auf und natürlich kommt er bei der Vorstellung der Stadt auf den ersten Seiten seines Buchs nicht um „die mit grauen, riesigen Schuppen gleichenden Steinplatten“ gedeckten Dächer herum. „Die Stadt“ wie Kadare in seinem autobiographischen Roman Gjirokastra kurz nennt, bezeichnet er als „vielleicht die steilste auf der ganzen Welt;“ Weiter beschreibt er: „Alle Gesetze der Architektur und des Städtebaus waren von ihr über den Haufen geworfen worden. Weil sie derart steil war, konnte es vorkommen, dass sich die Fundamente des einen Hauses auf der Höhe des Daches eines anderen befanden, und gewiss war dies der einzige Ort der auf der Welt, wo jemand, der am Straßenrand ausglitt, nicht in den Graben stürzte, sondern womöglich auf das Dach eines hohen Hauses. Besser als alle anderen wussten dies die Trunkenbolde.“


Diese auf das Dach gefallenen Personen kommen dann auch im weiteren Verlauf der Geschichte durchaus vor. Denn Kadare beschreibt nicht nur die Stadt. Er schildert vor allem das Leben in ihr. All die Ereignisse liegen noch keine 100 Jahre zurück. Aber es ist beeindruckend, wie klein und auf das tägliche Leben und Überleben der Tagesablauf ausgerichtet war. Beinahe unvorstellbar beispielsweise der große Aufwand, mit dem die Wasserversorgung in den Häusern sichergestellt werden musste, und wie groß die Sorge war, wenn es im Zusammenhang mit den Zisternen zu Problemen kam.Diese Konzentration des eigenen Lebens auf das Notwendige wird auch deutlich, wenn Kadare beschreibt, welche Gegenstände in dem Haus seiner Jugend vorhanden waren: „Kupferkessel, Mörser, Pfannen aller Größen, Getreidebehälter aus Holz und Stein, Eisenspangen, Balken …“. Er beschreibt dies um darzustellen, wie besonders es war, als er erstmals als kleiner Junge ein Buch ausleihen durfte und dies in den heimischen Haushalt mitbrachte. Bücher gab es dort bis dahin nicht. Wenn man nun die lebhaften Schilderungen mit Erzählungen aus Deutschland oder Frankreich vergleicht, die in den gleichen Jahren spielen, wird aber auch bewusst, wie unterschiedlich die Entwicklung in den damit zu vergleichenden Ländern schon vor knapp 100 Jahren war. Die Auswirkungen der Industrialisierung und des technischen Fortschritts, positiv und negativ, sind mit vielen Jahren Verzögerung dort auf dem Balkan angekommen.


Und ebenso waren viele Erkenntnisse der Aufklärung in der Jugendzeit des Autors in Albanien noch nicht verbreitet, die in den Ländern Westeuropas schon eine Selbstverständlichkeit waren. Beinahe skurril mutet es beispielsweise an, wenn bei einem Unglück überlegt wird, ob vielleicht ein junger Mann daran schuld sein könnte, weil er doch eine Brille trägt und Brillen sicherlich verhext sind. Genauso erinnert der Autor aber auch daran, wie fest der Zusammenhalt in der kleinen Stadtgemeinschaft war. Dieser Blick in die kulturelle Vergangenheit ist in Kadares Werk übrigens nicht auf die „Chronik in Stein“ begrenzt. Auch seine Romane, die in aktueller Zeit spielen, gewähren immer wieder Rückblicke und greifen alte Sagen und Legenden seiner Heimat auf. Damit wird sein umfangreiches Werk gerade für Europäer, die Albanien und die Geschichte Albaniens nicht so genau kennen, besonders interessant. Ebenso findet sich seine Heimatstadt auch in mehreren Büchern wieder. So beginnt „Ein folgenschwerer Abend“ in Gjirokastra zur Zeit der deutschen Besatzung.

Das Geburtshaus Ismail Kadares kann besichtigt werden. Es beherbergt heute ein kleines Museum, was im ersten Moment überrascht, denn Gedenkstätten werden normalerweise nach dem Tod einer bedeutenden Persönlichkeit eröffnet und Kadare erfreut sich durchaus noch seines Lebens.


Auch für uns ist es eine Ausnahme, dass wir auf unserer Europareise Station bei einem noch aktiven Schriftsteller machen. Und dies hat seinen besonderen Grund. Die europäische Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts ist auch eine Geschichte von Autoren zwischen Leben und Arbeiten unter Diktaturen und Flucht und Exil.


Es ist eine Geschichte von verbotenen Romanen und von heimlich zur Veröffentlichung gebrachten Werken. Dicht auf dem Fuße folgt diesen Erfahrungen die Diskussion über Anpassung und Widerstand, über Kompromittierung und Standhaftigkeit der betroffenen Schriftstellerinnen und Schriftsteller. Vieles davon findet sich auch im Lebenslauf  des heute 84-jährigen Kadares und der Veröffentlichungsgeschichte seines umfangreichen Werks wieder. Manches sogar in besonders ausgeprägter Form, was mit der heute beinahe unglaublich wirkenden Geschichte Albaniens in der Zeit zwischen dem Zweiten Weltkrieg und dem Fall des Eisernen Vorhangs zusammenhängt. Auf den Trümmern der faschistischen Besatzung gründete Enver Hoxha 1944 die Sozialistische Volksrepublik Albanien, die er schnell in eine Diktatur verwandelte und die er 41 Jahre lang als Generalsekretär des Zentralkomitees der Partei der Arbeit Albaniens regierte. Zuerst an das neu entstehende Jugoslawien Titos angelehnt, wandte er sich bald der Sowjetunion Stalins zu. Das Tauwetter nach dessen Tod unter Chruschtschow war für ihn Anlass einer Hinwendung zu China. 1968 wurde sogar formal der Austritt aus dem Warschauer Pakt erklärt. Aber auch die Verbindung mit dem Reich Maos hielt nicht lange und so führte er das kleine Land in Isolation und Armut.

Ismail Kadare blieb all diese Jahre in seinem Heimatland. Erst 1990 verließ er Albanien um sich in Paris niederzulassen. Seit 2002 pendelt er zwischen seinen Wohnungen in Paris und der albanischen Hauptstadt Tirana. Unter schriftstellerischen Gesichtspunkten ist sein Wirken in all den Jahren, egal ob unter dem kommunistischen Regime oder unter der neuen europäischen Ordnung, leicht einzuordnen. Es ist große Literatur und mehrmals schon war der Autor für den Nobelpreis vorgeschlagen.


Schwieriger ist die politische Einordnung: schon seinen ersten Roman, den er im Alter von 23 Jahren schrieb („Stadt ohne Reklamen“) durfte er nicht veröffentlichen. Er erschien erst über dreißig Jahre später nach Ende der kommunistischen Herrschaft in Albanien. Die darauf folgenden Werke wurden von der Literaturkritik seines Landes komplett ignoriert oder gleich nach ihrem Erscheinen als „dekadent“ bezeichnet und verboten. Mancher Roman wurde als Verunglimpfung des Kommunismus kritisiert. Und dies war sicher nicht unberechtigt, denn Kadare griff brisante Themen wie beispielsweise die Überwachung durch die Geheimdienste auf. Ebenso wagte er sich beispielsweise an die literarische Bearbeitung des Endes der guten Beziehungen zwischen Albanien und der Volksrepublik China („Konzert am Ende des Winters“). Vorwürfe, er sei ein feindlicher Agent, durften natürlich nicht fehlen. Vor allem nicht, nachdem Kadares Werk zunehmend im Ausland wahrgenommen wurde und der Schriftsteller plötzlich als „Liebling des Westens“ galt. 

Zeitweise wurde er als Parlamentsabgeordneter bestimmt. Dann wurde er plötzlich zur Zwangsarbeit aufs Land geschickt. Den einen galt er als Günstling des Regimes mit hoher Position im Schriftstellerverband. Gleichzeitig wurde er von Vertretern des Regimes als Dissident und unpatriotisch bezeichnet. Das alte Regime benutzte ihn als Aushängeschild. Für viele Freunde des Wandels wiederum war er ein Hoffnungsträger. Der Geheimdienst wurde auf ihn angesetzt, erzwungene Aussagen aus dem Bekanntenkreis über angeblich feindliche Agententätigkeit gesammelt. Seine Akte war nach Ende des kommunistischen Regimes mit 1.260 Seiten die umfangreichste aller Akten, die in Tirana über Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens angelegt wurden.


War es die Sorge vor der Reaktion des Westens, die Kadare schützte? Oder rettete ihn doch ein Rest von Loyalität, die er auch gegenüber dem alten Regime zeigte? War es vielleicht der Zufall, dass der ewige Diktator Enver Hoxha ebenfalls aus Gjirokastra stammte und so etwas wie einen Funken heimatlicher Verbundenheit mit dem rund ein Vierteljahrhundert jüngeren Autor gefühlt haben könnte? Aufklären lassen wird sich diese Frage nie. Und sicher ist auch, dass diese Diskussion nie beendet wird. Noch heute taucht regelmäßig die Kritik an der Systemnähe auf. Genauso regelmäßig die leidenschaftliche Verteidigung. Diskussionsabläufe, die wir in Deutschland übrigens ja zur Genüge aus unsere eigenen jüngeren Geschichte kennen.

Vielleicht war diese öffentliche Diskussion seiner Person der Grund, wieso sich Ismail Kadare mehrmals schon der vielfachen Aufforderung widersetzte, sich als Staatspräsident für das freie Albanien zur Verfügung zu stellen.


All diese Auseinandersetzungen machen aber noch etwas anderes deutlich: die hohe Bedeutung, die Schriftstellern und ihren Werken auch im 21. Jahrhundert beigemessen wird, und welch starke Wahrnehmung ihrer Personen und ihrer Arbeit in der breiten Öffentlichkeit besteht. Und dies ist doch ein gutes Zeichen in einer Zeit, in der immer wieder über den schwindenden Wert von Büchern diskutiert wird.

Und tatsächlich entstand ein Werk für die Ewigkeit, das Einfluss auf Generationen von Autoren ausübte. Für alle Literaturfreunde, die bisher das Buch immer wieder nach wenigen Seiten in das Regal zurück gestellt haben, soll hier der Rat einer erfahrenen Literaturwissenschaftlerin weitergegeben werden: man solle sich nie den ganzen Ulysees vornehmen. Das Ziel solle immer nur ein Kapitel sein und vor dem nächsten Kapitel sollten wieder andere Bücher gelesen werden. Mindestens einen Versuch müsste diese Taktik wert sein.

Ein kleiner Spaziergang durch Gjirokastra bietet sich hier an:

Spaziergang durch Gjirokastra
Noch bis 20. September 2020 kann bei ARTE ein Beitrag über Ismail Kadare und sein Albanien abgerufen werden.
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