Beginnen wir beim Autor. Miguel de Cervantes gilt als der bedeutendste Schriftsteller der spanischen Literaturgeschichte. Heißen die deutschen Sprachinstitute im Ausland Goethe-Institut, sind diejenigen für die spanische Sprache nach dem Vater des Don Quijote benannt: Instituto Cervantes. Ist auch die Bedeutung der beiden Autoren für ihre Länder die gleiche, so könnte ihr Lebensweg nicht unterschiedlicher sein. Auf der einen Seite der deutsche Nationaldichter. Ein Sohn aus gut bürgerlichem und sehr wohlhabendem Haus, dessen Weg an einen Fürstenhof führte und der ein hoch anerkanntes öffentliches Leben als Dichter, Beamter, Wissenschaftler und Theaterintendant führte und zu dessen größten Aufregern im Lebenslauf neben einigen amourösen Eskapaden vor allem eine nicht genehmigte Abreise zu einem mehrjährigen Italienaufenthalt gehörte.
Auf der anderen Seite der rund 200 Jahre ältere Spanier, der nicht nur einen Abenteuerroman schrieb, sondern einen solchen nahezu täglich auch lebte. 1547 wurde er als Sohn eines verarmten Adeligen in Alcalá de Henares bei Madrid geboren. Sein vermutetes Geburtshaus ist heute ein Museum und Start der Route des Don Quijote. In dem zweistöckigen Gebäude mit dem malerischen Innenhof wird eine Wohnsituation des 16. Jahrhunderts nachgestellt. Von diesem Ort aus machte sich Cervantes auf seinen Lebensweg, von dem lediglich die ersten zwanzig Jahre weitgehend „normal“ verlaufen sollten. In jungen Jahren schafft er den Sprung an die angesehenen Universitäten von Madrid und Salamanca. Eine Station als Kammerdiener eines Kardinals in Rom folgt.
Und dann wird es wild: Teilnahme als Marinesoldat an der legendären Seeschlacht von Lepanto, die mit dem Sieg des christlichen Heers über die Osmanen endet. Fünf Jahre verbringt er nach einem Piratenüberfall als Sklave in algerischer Gefangenschaft. Freigekauft durch ein Kloster, versucht er als Steuereintreiber Fuß zu fassen, was nicht so recht gelingen will und im Gefängnis endet. Auch als Versorgungskommissar kommt er in Schwierigkeiten mit der Justiz. Seine Ehe scheitert nach wenigen Jahren und seine ersten Versuche als Schriftsteller führen nur zu mäßigem Erfolg. Und dann, im Alter von 58 Jahren, der große Erfolg mit „Don Quijote“. Ob er tatsächlich im Gefängnis mit der Niederschrift dieses „Weltbuchs“, wie es Thomas Mann einmal bezeichnete, begann, ist unter seinen Biographen umstritten. Sicher ist aber, dass sein eigenes abenteuerliches Leben sein Werk prägte. Wenn er seinen Ritter mitfühlend mit Sträflingen sprechen lässt, die zu Galeerenhaft verurteilt sind und in Ketten durch die Stadt geführt werden, so spricht vermutlich aus jeder Zeile eigene Lebenserfahrung.
Doch wer ist dieser Don Quijote, der sich so sehr für das Schicksal seiner Mitmenschen interessiert. Er ist ein kleiner, armer Landadeliger, der einen der im 16. Jahrhundert so populären Ritterromane nach dem anderen verschlingt. Eines Tages kann er nicht mehr zwischen Roman und Wirklichkeit unterscheiden und hält sich plötzlich selbst für einen dieser Ritter aus längst vergangenen Zeiten. Die alte, verrostetet Rüstung seiner Vorfahren wird gereinigt, ein Helm wird gebastelt und sein altes Pferd auf den wohlklingenden Namen Rosinate getauft und gesattelt. Bevor sich der tapfere Junker in seine Abenteuer stürzen kann, muss er noch zum Ritter geschlagen werde. Ein Gastwirt kommt diesem Ansinnen mit Freuden nach und nun kann es losgehen. Als der letzte Ritter hat er für Gerechtigkeit zu sorgen, er hat den Armen und Wehrlosen zu helfen und für den Erhalt der Ideale vergangener Zeiten zu sorgen. Dabei entstammen die Herausforderungen meist genauso der Phantasie des Helden wie sein gesamtes Ritterdasein. Weinschläuche führen zu eine höchst blutigen Schlacht, Hammelherden werden zu feindlichen Heeren, aus Kneipen werden Burgen und die Windmühlen sind eben Riesen, die dringend bekämpft werden müssen. Diese reiche Phantasie und die ständigen Verfremdungen machen es nicht einfacher, den Wegen des Ritters zu folgen.
Ein fester Erinnerungsort konnte aber in der Kleinstadt El Toboso eingerichtet werden. Hier können wir die Casa de Dulcinea del Toboso besuchen. Cervanteskenner schmunzeln beim Name Dulcinea, handelt es sich bei dieser Dame doch um eine Dorfschönheit, die der edle Recke zu seinem idealen Burgfräulein stilisiert. Sie wird zu seiner Geliebten um derentwillen er sich in neue Abenteuer stürzt, die natürlich auch stets mit wilden Prügeln und großen Niederlagen enden. Die Liebesbeziehung hat nur den Haken, dass sie selbst im Roman fiktiv bleibt. Die Dulcinea erfährt nie von der Liebe, die ihr ihr wackerer Ritter entgegenbringt. Die Casa de Dulcina gehörte zur Zeit, als der Roman entstand, vermutlich der Frau, die als Vorbild für die ideale und idealisierte Gestalt der großen Liebe des Ritters diente. Und tatsächlich passt das hingebungsvoll eingerichtete Gebäude mit Weinkeller und Olivenpresse besser zu einem Bauernmädchen als zu einer adeligen Dame.
Miguel de Cervantes schuf mit seinem Don Quijote nicht nur einen Klassiker der Weltliteratur. Er wirkte auch stilbildend. Dieses Werk, dessen beide Teile in den Jahren 1605 und 1616 erschienen, gilt als der erste moderne Roman der Literaturgeschichte. Der klare Aufbau der klassischen Erzählung wird aufgegeben, die eigentliche Handlung wird durch unzählige eingeflochtene Geschichten, die eigentlich keinen Bezug zum Hauptgeschehen haben, durchbrochen. Verschiedenen literarische Gattungen wechseln sich ab, Novellen und Sonette werden eingestreut. Ganz überraschend wird es im zweiten Teil. Hier begegnet Don Quijote immer wieder Personen, die den ersten Teil des Romans gelesen haben und ihn erkennen. Der Roman wird plötzlich zur Wirklichkeit im Roman. Insgesamt entsteht die für den modernen Roman so typische Collage von Erzählperspektiven und Stilen. Unzählige Autoren von Flaubert und Proust bis hin zu Melville und Gogol werden beeinflusst, bevor diese Romanform sich dann im 20. Jahrhundert in voller Breite entfaltet.
Unzählige Male aufgegriffen und variieret wurde auch die geniale Idee, dem Helden einen treuen Partner zur Seite zu stellen. Durch den Knappen Sancho Pansa werden die Handlungen des meist restlos unzurechnungsfähig wirkenden Ritters reflektiert, kommentiert und teilweise auch korrigiert. Die Kombination des weltfremden Meisters und des bodenständigen und bauernschlauen Dieners funktioniert als Rollenmodell bis heute. Franz Kafka setzte dem wackeren Helfer mit „Die Wahrheit über Sancho Pansa“ ein Denkmal.
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