Der 1874 bei Wien geborene Hugo von Hofmannsthal galt früh als Wunderkind der Literatur. Seine ersten Gedichte konnte er nur unter Pseudonym veröffentlichen, denn Schülern war eigenständiges literarisches Schaffen nicht erlaubt. Als Lyriker und Dramatiker gehörte er zu den bedeutendsten Vertretern des österreichischen Impressionismus. Im allgemeinen Bewusstsein sind heute vor allem noch die Opernlibretti für „Elektra“ und „Der Rosenkavalier“, die er für Richard Strauss schrieb. Und eben der Jedermann.
Dieser wurde 1911 in Berlin von Max Reinhardt erstmals auf die Bühne gebracht. Erst durch seine prominente Salzburger Positionierung ging er aber in die Literaturgeschichte ein. Hier, vor der barocken, mit Heiligenfiguren geschmückten Fassade des Doms fand er, so von Hofmannsthal, seinen „selbstverständlichen Platz“. Alleine schon, wenn in jeder Vorstellung die Rufe nach Jedermann von Festung und Turm der Franziskanerkirche über die Stadt zum Domplatz donnern, kann man sich tatsächlich keinen anderen Ort für eine Aufführung dieses Stücks mehr vorstellen.
Bis heute gilt die Besetzung als Jedermann in Salzburg als Krönung einer Schauspielerkarriere. Attila Hörbiger, Curd Jürgens, Maximilian Schell und Klaus-Maria Brandauer litten hier schon vor dem Dom, um nur einige der bekanntesten Namen zu nennen. Nicht weniger begehrt ist die Besetzung der Buhlschaft, der weiblichen Hauptrolle. Hier fallen die Namen Senta Berger, Veronica Ferres oder Nina Hoss auf.
Genau diese Buhlschaft sitzt an der Seite des reichen Jedermann, als dieser bei einem Fest barocker Dimension mit einer üppig gedeckten Tafel, die sich unter der Vielfalt der Speisen biegt, und Wein, der in Strömen fließt, plötzlich mit dem Tod konfrontiert wird. Und dies sehr konkret, tritt jener doch als leibhaftige Person an seine Seite und fordert ihn auf, sich für seinen letzten Weg bereit zu machen. Der Mann, der im Leben gewohnt war, jedem jede Bitte abschlagen zu können, bekommt es mit der Angst zu tun und erwirkt sich mit Mühe eine Stunde Aufschub, um einen Begleiter für den Weg zum letzten Gericht zu finden. Doch alle Freunde und Vettern verweigern ihm den abschließenden Freundschaftsdienst. Sogar das Geld in Person des Mammon, das im Leben für ihn so eine wichtige Rolle spielte, weigert sich, ihn zu begleiten. Ja, es erklärt ihm sogar noch, dass Jedermann sein ganzes Geld nie besessen habe. Vielmehr habe er, der Mammon, „regiert in deiner Seel“ und „dich am Schnürl tanzen lassen“. Am Ende sind nur seine guten Taten und ihre Schwester, der Glaube, bereit, den reichen alten Mann zu begleiten und für ihn am jüngsten Gericht zu sprechen. Auch wenn die guten Taten aufgrund des Lebenswandels des Reichen sehr schwach sind, genügen sie, um die Rettung seiner Seele zu bewirken. Eine Geschichte, die wahrlich auf dem Vorplatz einer Kirche perfekt positioniert ist.
Hugo von Hofmannsthal ist der Autor des Bühnenstücks. Als Urheber der inszenierten Geschichte kann er aber nicht gesehen werden. Der Schriftsteller bediente sich bei der Gestaltung seines Werks einer mittelalterlichen Vorlage aus dem späten 15. Jahrhundert mit dem Titel „The Somonyng of Everyman“ („Jedermanns Vorladung“) von einem unbekannten englischen Autor. Und dieser unbekannte Engländer griff auf eine holländische Arbeit zurück, „Den Spyeghel der Salicheyt van Elckerlijc“ - „Der Spiegel von Jedermanns Seligkeit“. Damit dürften wir tatsächlich am Ursprung der Erzählung angekommen sein. Lange Zeit war zwischen den Literaturwissenschaftlern sogar umstritten, welche der beiden Fassungen die Ursprungsfassung ist, bis endlich in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts ausgerechnet ein englischer Historiker den Nachweis lieferte, dass die Ehre der Urfassung dem Land auf der anderen Seite des Kanals zustehen dürfte.
Entstanden ist sie vermutlich in einer der in diesen Zeiten in den Niederlanden so bedeutenden Dichtergilden, die rederijkerskamer, also „Redekammer“ genannt wurden. Berufsdichter und interessierte Laien dichteten gemeinsam und gestalteten mit ihren Werken das öffentliche Leben in ihrer jeweiligen Stadt.
Zum Gildeleben gehörten auch Wettbewerbe. Und spätestens an dieser Stelle schweift ein Gedanke nach Nürnberg ab. Drängt sich der Vergleich mit der Meistersingerzunft, der Richard Wagner ein ewiges musikalisches Denkmal gesetzt hat, nicht geradezu auf? Und dies vollkommen zurecht. Bei genauer Betrachtung fällt nämlich auf, dass die Verbindung noch viel enger ist, als es auf den ersten Blick scheint. Der bedeutendste Nürnberger Meistersinger, auch in der Wagner-Oper ist ihm eine zentrale Rolle zugedacht, ist der Schustermeister Hans Sachs. Mit rund 6.000 Meisterliedern, Spruchgedichten, Dramen, Fabeln und Schwänken war er sicherlich einer der produktivsten Dichter der europäischen Literaturgeschichte. Mitten in diesem riesigen Gesamtwerk findet sich auch ein Drama mit dem Titel: „Von dem sterbenden reichen Menschen, Hekastus genannt“ aus dem Jahre 1549. Und bei diesem Stück handelt es sich um nichts anderes als um eine Bearbeitung unseres „Jedermanns“. Sachs war bei Weitem nicht der einzige Dichter, der sich diesem Stück annahm. Zahlreiche Dichter fühlten sich von diesem Stück inspiriert und binnen weniger Jahrzehnte wurde es in zahlreichen Fassungen und Sprachen aufgelegt und variiert. Aus dem holländischen Ursprungswerk wurde schnell ein wichtiges Stück der europäischen Literatur. Da stellt sich schon die Frage, wieso gerade dieser Jedermann eine so große und nachhaltige Verbreitung fand und sich so aus der Masse der täglichen Schriftproduktion herausheben konnte.
Mysterienspiele, mit denen meist Glaubensinhalte auf anschauliche Weise vermittelt wurden, gab es schon in der Antike. Im Christentum sind sie seit dem Mittelalter belegt. Viel einprägsamer und emotionaler als mit einer einfachen Predigt konnte die Glaubenslehre den Menschen vermittelt werden. Fließend war der Übergang von den geistlichen Schauspielen, die stets als Teil des Gottesdienstes aufgeführt wurden, zu diesen Spielen, die losgelöst im öffentlichen Raum stattfinden konnten. Die seit dem Mittelalter beliebten Krippen- und Passionsspiele zur Weihnachts- bzw. Osterzeit sind ein gutes Beispiel für diese Entwicklung. Zuerst wurden sie nur in Kirchen dargestellt, die Texte waren lateinisch und als Schauspieler agierten die Priester. Nach und nach wurden auch Laien als Mitwirkende zugelassen, die Stücke wurden in die jeweiligen Mutter- und Umgangssprachen transferiert und die Spielstätten wurden aus den Kirchengebäuden herausverlegt. Sie wurden zu großen öffentlichen Ereignissen. Immer größer und prächtiger. Und damit einer anderen Art der Glaubensvermittlung für die des Lesens unkundigen Menschen nicht unähnlich: Der Malerei.
Neben Christi Geburt und Auferstehung wurden auch weitere Anlässe des Kirchenjahrs und der Glaubenswelt als Stoff für Schauspiele genutzt. Tod und jüngstes Gericht, die den Menschen in allen Epochen Furcht einflößten und die Phantasie beflügelten, durften da natürlich nicht fehlen. Und offensichtlich traf das Stück aus den Niederlanden genau die Stimmung der Menschen in den aufgewühlten Jahren am Ende des 15. Jahrhunderts mit den immer wieder aufflammenden Glaubensdiskussionen, die dann in der Reformation ihren Höhepunkt finden sollte.
Interessant ist, dass mehr als vierhundert Jahre nach der Erstfassung Hugo von Hofmannsthal dieser mittelalterlichen Stoff so aktuell erschien, dass er ihn in einer ganz anderen Zeit wieder aufgriff und ihm neues Leben einhauchte. Er tat dies in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg, in denen rasanter technischer Fortschritt die Gesellschaft durcheinander wirbelte. Eine Gesellschaft, in der eigentlich alles möglich erschien und sich für viele Menschen die Chance zum gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Aufstieg bot, konfrontierte der Autor mit Fragen des Todes und der Verantwortung. Mittels der Wiederbelebung der alten Erzählung macht er dem Zuschauer deutlich, dass die Kernfragen des Lebens die gleichen bleiben, vollkommen unabhängig von Zeitalter und den Lebensumständen und dem Reichtum des Einzelnen. Und wenn heute in Salzburg ein Kulturereignis ersten Ranges zelebriert wird, ist durchaus zu vermuten, dass manche der Besucherinnen und Besucher den Domplatz etwas nachdenklich verlassen und sich nicht nur über die Frage, ob die Buhlschaft eine gute Figur abgegeben hat, Gedanken machen.
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