Sehr prägnant fasste Theodor Fontane, der zwanzig Jahre lang in Berlin auch als Theaterkritiker tätig war, den Stil Ibsens zusammen: „Beiden gemeinsam ist die Wahrheit und Ungeschminktheit in der Wiedergabe des Lebens, beiden gemeinsam auch die pessimistische Weltanschauung.“ Mit „Beiden“ bezog er sich auf die Theaterstücke „Gespenster“ und „Die Wildente“ von Ibsen, deren Aufführung er kurz hintereinander zu besprechen hatte. In der Kritik der Gespenster spricht er auch vom eminenten Talent und der hervorragenden Bedeutung Ibsens.
Leider gibt es keine Rezension Fontanes einer Aufführung von „Nora oder eine Puppenheim“ , einem Hauptwerk Ibsens. In diesem Stück kämpft eine Frau gegen die Fesseln ihrer unglücklichen Ehe um ein eigenständiges Leben. Eine Handlung, die einem aus Effi Briest, einem der bekanntesten Romane Fontanes, bekannt vorkommt. Und doch unterscheiden sich die Werke elementar. Während der Berliner Autor als Vertreter des Realismus hart an der vermutlichen Realität und damit der gesellschaftlichen Enge des Kaiserreichs bleibt, wagt der norwegische Naturalist im Sinne der geforderten Veränderung der Gesellschaft den Ausbruch. Bei Fontane endet Effis Begehren in der Katastrophe für alle Beteiligten und Effi erhält ihre „gerechte Strafe“ für ihr Begehren. Nora hingegen verlässt mit einer knallenden Tür Bühne und Ehemann und geht als Siegerin aus dem Drama hervor. Oft wird „Nora oder das Puppenheim“ aufgrund dieses Schlusses als erstes emanzipatorisches Theaterstück bezeichnet.
Bevor sich Henrik Ibsen jedoch zu einem einen ganzen Literaturstil prägenden Autor entwickeln konnte, musste er auch ganz empfindliche Rückschläge einstecken. Da das Museum in seiner ehemaligen Wohnung derzeit zwecks Renovierung geschlossen ist, brechen wir deshalb zu einer Fahrt ins Landesinnere auf und kommen dem Dichter auf Wegen nahe, die er einst in für ihn schweren Zeiten beschritt und die für sein Werk entscheidend werden sollten. Knapp eine Stunde sind wir schon unterwegs nach Norden, als der Fluss links von uns ganz allmählich breiter und breiter wird. Wir haben die südlichen Ausläufer des größten norwegischen Sees, des Mjøsa-Sees, erreicht. Über 117 Kilometer zieht er sich hin, umgeben von sanften Hügeln auf denen sich üppig blühende Wiesen, in voller Pracht stehende Getreidefelder und dunkle Wälder abwechseln. Gemütlich dreht der Skibaldner, der älteste betriebsfähige Passagierraddampfer der Welt, seine Runden auf dem See. Er war bereits sechs Jahre im Einsatz, als Ibsen 1862 hier ankam. Er müsste ihn also schon gesehen haben.
Am nördlichen Ende des Sees, bei Lillehammer, am Zufluss des Gudbrandsdals-Lågen, werden die Hügel zu Bergen. Von hieraus schlängelt sich das Gudbrandstal über 320 Kilometer nach Nordosten durch das Zentrum Norwegens und dieses Tal ist das Ziel unserer Fahrt.
Henrik Ibsen war zum Zeitpunkt seiner Reise gerade mal 34 Jahre alt und konnte bereits auf eine ordentliche Laufbahn als Theaterdichter und Theaterleiter zurückblicken. Gleichzeitig befand er sich in einer existentiellen Lebenskrise. Für das von ihm geleitete Kristiania Norske Theater musste er Insolvenz anmelden, seine finanzielle Situation kann als prekär bezeichnet werden. Erste Kleingläubiger strebten Prozesse an und die Versorgung seiner kleinen Familie mit Ehefrau und zweijährigem Sohn war nicht mehr gesichert. Offensichtlich führte die Insolvenz des Theaters auch zu öffentlichen Diskussionen, denn er fühlte sich ungerecht behandelt und von den Norwegern unverstanden.
In dieser Situation war es ein großes Glück, dass es ihm gelang, ein Universitätsstipendium für ein Projekt zur Erforschung der norwegischen Volkskultur zu erhalten. Zwei Monate sollte er durch das Land reisen um Mythen und Volksmärchen zu sammeln. Solche Stipendien, von denen zahlreiche belegt sind, waren in diesen Jahren ein wirkungsvolles Mittel zur Unterstützung von bedürftigen Literaten. Ibsen machte sich also auf den Weg. Teilweise mit der Postkutsche, oft zu Fuß und manchmal ließ er sich auch auf dem Fluss rudern. Er suchte den Kontakt mit den Menschen, brachte sie zum Reden und notierte sich die Erzählungen, die ihm interessant erschienen. Allerdings schaffte er es nicht, der Universität die versprochenen siebzig bis achtzig Volksmärchen zu liefern. Es waren deutlich weniger, was für ihn aber keine Konsequenzen hatte. Ein erfreulicher Nebeneffekt war aber, dass zahlreiche Begegnungen und Geschichten dieser Reise ihn für sein eigenes Werk inspirierten. So auch für sein bis heute populärstes Werk, den „Peer Gynt“, den er nur drei Jahre nach seiner Wanderung schrieb. In Sødorp bei Vinstra hört er die abenteuerlichen Erzählungen über den Bauernjungen Peder Olsen Hågå, der hier im 18. Jahrhundert gelebt haben soll. Rentiere soll er geritten und Trolle getötet haben. Ibsen nimmt noch Anregungen aus norwegischen Feenmärchen hinzu und es entsteht die Geschichte des Mannes, der davon träumt, Kaiser oder König zu werden, der betrügt und lügt, eine Braut raubt, als Sklavenhändler zu Reichtum kommt und alles wieder verliert. Geheilt von Größenwahn und Egoismus muss er erkennen, dass er sein Leben verschwendet hat. Das ursprünglich als dramatisches Gedicht angelegte Werk wurde wenige Jahre später zum Bühnenstück umgearbeitet. Unterlegt mit der Bühnenmusik von Ibsens Landsmann Edvard Grieg wurde es zum Erfolg auf den Bühnen Europas, der bis heute anhält. Eine besonders eindrucksvolle Inszenierung kann Sommer für Sommer in des Helden Heimat besucht werden. Die Open-Air-Aufführungen im Rahmen des Peer Gynt-Festivals am Gebirgssee Gålåvatnet ziehen Besucherinnen und Besucher aus ganz Europa an. Ein besseres Bühnenbild als den See und die Landschaft des Gudsbrandstal kann man sich nicht vorstellen.
Etwas weiter im Norden stoßen wir unweit des Galdhøpiggen, dem mit 2469 Metern höchsten Berg Norwegens, auf das Dorf Lom. Diese Station war für Ibsen besonders ergiebig. Eine Bauerntochter erzählte ihm die Geschichte einer raffgierigen und gleichzeitig geizigen Frau, die in dem dramatischen Gedicht „Brand“ dann wieder auftaucht. Glücklich war der Schriftsteller auf Wanderschaft, dass er Lom erreichte, als dort gerade der Markt stattfand. An Fiedelmusik, Tanz und hausgemachtem Schnaps hatte er große Freude und solche Szenen des ausgelassenen und fröhlichen Lebens finden sich nicht nur in seinem Tagebuch, in dem er den Markt von Lom ausführlich beschreibt, sondern später auch in Peer Gynt.
Die kleine Ortschaft mit ihrer markanten Stabkirche und den malerischen Holzhäusern bietet sich auch heute noch als Station auf einer Reise durch das Gudbrandstal an. Die Gäste erwarten unter anderem ein Freilichtmuseum mit alten Bauernhäusern, ein Gebirgsmuseum und eine große Sammlung an Gesteinen und Mineralien.
Als Ibsen nach dieser intensiven Reise wieder in Oslo, das damals noch Kristiana hieß, ankam, sah die Zukunft für ihn noch genauso düster aus. Nach wie vor fühlte er sich unverstanden. Er entschloss sich, ins Ausland zu gehen. Offensichtlich konnte er nur aus der Distanz sich mit seiner Heimat auseinandersetzen. Dies tat er aber intensiv, denn alle seine Werke spielen in Norwegen. Wie schwierig das Verhältnis zu seinem Heimatland war, zeigt sich auch an folgender Begebenheit: Als ihm berichtet wurde, sein Stück „Bund der Jugend“ sei 1869 bei der Uraufführung in Norwegen, bei der Ibsen nicht anwesend war, ausgebuht worden und hätte einen regelrechten Skandal verursacht, kommentierte er dies nur mit den Worten: »Mein Land ist das alte!«
Aber vermutlich waren es nicht nur atmosphärische Störungen zwischen dem Autor und seiner Heimat. Nicht nur in der Literatur muss mit Schwierigkeiten rechnen, wer neue Wege beschreitet und die Anhänger des Althergebrachten verfügen üblicherweise über ein großes Beharrungsvermögen. So wird Henrik Ibsen in Band vier der dritten Auflage von Herders Konversationslexikon, der ein Jahr vor seinem Tod veröffentlicht wurde, ein ausführliches Kapitel gewidmet, was die Bedeutung unterstreicht, die er schon zu Lebzeiten auch außerhalb Norwegens erreichte. Allerdings zeigt sich an dem Eintrag auch, wie sehr sich Bewertung und Einschätzung eines Autors im Laufe der Jahre ändern können. So wird in diesem deutschen Lexikon gewürdigt, dass sich Dramen wie Nora, Gespenster, Volksfeind oder Hedda Gabler durch „ große Folgerichtigkeit im Aufbau und psychologischen oder psychiatrischen Scharfblick“ auszeichnen würden. Aber, und nun wird es spannend: sie hätten „einen verderblichen Ansporn zur Entwicklung des Naturalismus gebildet.“ Und weiter: das ganze Dichten Ibsens biete „ein paradigmatisches Bild der Selbstzersetzung des romantischen Idealismus und der Auflösung in trostlosen Nihilismus.“
Nicht abhalten von solchen Einschätzungen ließen sich aber viele Dichter, die sich in ihrem Schaffen an Ibsen orientierten. Exemplarisch sollen hier nur die Nobelpreisträger Gerhart Hauptmann und George Bernard Shaw genannt werden.
Und in Dublin veröffentlichte im Jahr 1900 ein achtzehnjähriger Student seinen ersten Artikel in einer kleinen Literaturzeitschrift. Der Titel des Artikels war: „Ibsen’s New Drama“. Auf irgendwelchen Wegen muss dieser Artikel seinen Weg nach Norwegen gefunden haben. Auf alle Fälle war er so verfasst, dass er bei dem damals schon über siebzigjährigen Ibsen große Freude auslöste. Er bedankte sich mit einem persönlichen Brief bei dem Nachwuchsschriftsteller, bei dem es sich um niemand anders als um James Joyce handelte. Ein Grund mehr, dass unsere Reiseroute uns auf der nächsten Station nun nach Irland führen wird.
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