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Lesbos

 

3. Station: Die Heimat der Sappho - Lesbos/Griechenland
23. Mai 2020

Fällt der Name der griechischen Insel Lesbos, geht seit einigen Jahren oft der erste Gedanke zu den Menschen, die auf ihrem Weg nach Europa hier an den Ufern anlanden. Nur wenige Kilometer trennen die Insel vom türkischen Festland. Die Bilder dieser Flüchtlinge haben ihren regelmäßigen Platz in den Hauptnachrichten.

Weit weniger im Bewusstsein hat sich die literarische Bedeutung dieses kleinen, von wuchtigen Bergmassiven dominierten Fleckens im Mittelmeer erhalten. Dabei kann er für sich  entsprechend der Sage und Überlieferung in Anspruch nehmen, dass an seinem Gestade Orpheus‘ Kopf und Harfe nach dessen bestialischer Ermordung angespült wurden. Deutlich belegbarer ist ein anderer Eintrag im Geschichtsbuch von Lesbos. Es ist die Nachricht von der Lyrikerin Sappho. Vor mehr als 2.600 Jahren in dem kleinen Inselstädtchen Eressos geboren, verbrachte sie den größten Teil ihres Lebens auf der Insel. Hier wirkte sie und von hier aus lenkte sie die europäische Literatur in neue Bahnen.
Auf den ersten Blick lässt das erhaltene Werk die epochenübergreifende Bedeutung Sapphos nicht erkennen. Nur ein Gedicht ist komplett dokumentiert. Von 167 weiteren gibt es Fragmente. Teils sind diese auf Papyrus erhalten, teils sind sie nur in Zitaten in den Werken anderer Dichter überliefert. Die neun Bände, in denen die Götterhymnen und Lieder ursprünglich gesammelt wurden, sind alle verloren. Ihre neuartige Art zu dichten, ihre klare Sprache, ihre originelle Wahl der Metapher und ihre Musikalität ihrer Verse war jedoch bahnbrechend.  Verstärkt wurde der sanfte Fluss ihrer Texte, wenn sie begleitet vom Klang eines Musikinstrumentes gesungen wurden. Lyrik war das Gedicht, das von der Lyra begleitet wurde. Noch heute wird ihr Versmaß, ihr ganz eigener, harmonischer Rhythmus der Silben Sapphische Strophe genannt.
Es überrascht wenig, dass andere Dichter den neuen Schreibstil, den Sappho entwickelt hatte, schnell übernahmen. Erfolg findet immer seine Nachahmer. Dabei übernahmen diese Nachfolgerinnen und Nachfolger nicht nur den Stil, sondern immer wieder auch das eine oder andere Zitat, und so wanderten die Verse und Reime dieser großen Dichterin aus dem 6. Jahrhundert vor Christus ins 21. Jahrhundert nach Christus.
Sappho wurde mit ihrem Stil zum Vorbild unzähliger Dichtergenerationen. Ihre Art zu dichten wurde schriftlich und mündlich weitergegeben. Sie überwand spielend jegliche Sprach- und Epochengrenzen. Horaz, der meistgerühmte römische Dichter der Zeitenwende, verfasste seine vier Lyrikbände, die als sein Hauptwerk gelten, im Stile der Lyrikerin von Lesbos. Mit seinem Handbuch der Dichtkunst, das über Jahrhunderte hinweg ein Standardwerk für alle Poeten war, verstärkte er ihre Wirkung. In allen Epochen und in allen Sprachräumen war die große Griechin die Richtschnur, an der sich Dichter orientierten. Bis zum heutigen Tag lässt sich die lyrische Dichtung nach Lesbos zurückführen. Eine wirklich europäische Entwicklung.
Wer nun auf der drittgrößten griechischen Insel auf den Spuren der Sappho wandeln möchte, braucht eine gewisse Vorstellungskraft. Wenig ist aus ihrer Zeit erhalten. Oder besser gesagt freigelegt. Die Inselhauptstadt Mytilini, der Ort, an dem sie viele Jahre ihr berühmtes Mädchenpensionat betrieb, macht dies anschaulich. Schon damals stand hier eine kleine Stadt mit Burg und Hafen. Aber im Laufe der Jahrhunderte und Jahrtausende wurden die alten Siedlungsstrukturen immer wieder überbaut und so liegt   die Stadt Sapphos heute einige Meter unter der lebendigen Altstadt. Am ehesten dürfte noch der antike Hafen mit den zwei sehr gut erhaltenen Molen aus dem 5. Jahrhundert vor Christus in ihre Zeit zurückreichen. Als die ersten Schauspieler begannen, das berühmte Theater von Mytilini mit Leben zu erfüllen, war die große Dichterin schon 250 Jahre tot. Die verschiedenen Ausgrabungen stammen aus späteren Phasen der griechischen Zeit oder aus der römischen Ära. Und selbst mit den ausgewiesenen „Originalschauplätzen“ muss man vorsichtig sein. Die Ruine (oder besser gesagt der Steinhaufen), der in dieser Stadt als das „Wohnhaus der Sappho“ ausgewiesen ist, erweist sich bei näheren Nachforschungen als ein Gebäude aus römischer Zeit.
Und trotzdem lohnt die Reise. Es ist die Insel, die dem Reisenden die Lyrikerin nahe bringt. Von ihr wird berichtet, dass sie sich in der freien Natur zu ihren Gedichten inspirieren ließ. Verschiedene Plätze werden mit ihr in Verbindung gebracht, und wer auf einem Hügel zwischen alten Olivenbäumen seinen Blick über Felder und kleine Siedlungen hin zu Meer und Horizont gleiten lässt, kann sich vollkommen in eine Feststellung von Odysseas Elytis, dem großen griechischen Lyriker des 20. Jahrhunderts, hineinversetzen. Der Literaturnobelpreisträger von 1979, dessen Familie von Lesbos stammte und der dieser Insel sein Leben lang eng verbunden war, stellte einmal fest, dass hier der Mond größer sei als im übrigen Griechenland, die untergehende Sonne röter, das Licht milder und die Hügel sanfter seien. Dieses harmonische Zusammenspiel von Licht und Landschaft, von Wasser, Land und Himmel macht heute noch für alle Gäste den Reiz dieser Insel aus und schlägt die Verbindung zu Sappho und ihren Gedichten.

Psst – Sonne, Glanz, Leben! Ich liebe den Glanz-
ich liebe den Glanz: … Dies wurde mein Teil im Leben,
Hell, strahlend und schön ist dies mein Los, weil ich die Sonne liebe

Auch als Person blieb Sappho bis zum heutigen Tag ein Teil der europäischen Kulturgeschichte. Zahlreiche Opern wurden ihr gewidmet, Autoren, von Boccaccio über Grillparzer bis hin zu Baudelaire befassten sich mit ihr. Raffael verewigte sie in den Gemächern des Apostolischen Palasts im Vatikan (Stanzen des Raffael in den Vatikanischen Museen) und viele Maler aller Epochen machten sich im wahrsten Sinnes des Wortes ihr Bild von der Künstlerin. In allen Sparten der Kunst waren oft wilde Fantasien der Auslöser, die sich um ihre Rolle als Leiterin des Mädchenpensionats in Mytilini rankten. Junge Mädchen wurden hier in Sangeskunst und guten Manieren ausgebildet. Sie wurden in die Götterdienste eingewiesen und sollten Sinn für Schönheit und Lebensart gewinnen. Manche der verbliebenen Fragmente von Sapphos Gedichten wurden als Liebeserklärungen an ihre Schülerinnen verstanden. Lesbos wurde zum Namensgeber der lesbischen Liebe, der Liebe unter Frauen. Bei nüchterner Analyse ihrer Gedichte, die sich teilweise an Männer, teilweise an Frauen richteten, muss man aber auch hier wieder einmal sagen, zu beweisen ist nichts.


Einige schöne Exponate aus der Zeit Sapphos finden sich in den beiden archäologischen Museen von Mytilini. Diese sind allerdings im Internet nicht sehr präsent. Deshalb empfehlen wir für diese Station der Lesereise ein Buch: die Schriftstellerin Eva Demski geht in dem kleinen Band „Lesbos – Sappho und ihre Insel“ den Spuren der Dichterin auf Lesbos nach. Sehr einfühlsam bringt sie uns Person, Heimat und Werk Sapphos nahe.



Wie haben sich die Lieder von Sappho eigentlich angehört? Das Kulturensemble Podium Arts unterlegt die alten Texte mit Melodien und erweckt sie so wieder zum Leben. Hier gibt es eine Kostprobe des Liedes an Aphrodite.
Zur Hörprobe
Wertvolle Dokumente zu vielen Literaten, die in der Tradition von Sappho gearbeitet haben, finden sich im Deutschen Literaturarchiv, dem Schiller-National-Museum im Marbach. Sie können sich eine Museums-App herunterladen und dann in aller Ruhe Dauerausstellungen erkunden, Briefe umdrehen, in Manuskripten und Büchern blättern, sich Geschichten erzählen lassen und Exponate mit Freunden teilen.
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