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Sizilien

 

8. Station:  Auf den Spuren des Leoparden - Santa Margherita di Belice/Italien
28. Juni 2020

Rund eineinhalb Stunden dauert die Fahrt von der sizilianischen Hauptstadt Palermo in den kleinen, im Südosten der Insel gelegenen Ort Santa Margherita di Belice. Die Strecke führt über gut ausgebaute Straßen. Dank gut schließender Fenster und leistungsstarker Klimaanlage spüren Reisende des 21. Jahrhunderts weder den Staub noch die Hitze, die so typisch für die heißen, das Land austrocknenden Sommer auf der größten Insel des Mittelmeers sind.

Wie sehr unterscheidet sich die Fahrt im Sommer 2020 doch von einer Fahrt im August 1860. Volle drei Tage dauerte die Reise in schweren Kutschen. Doch hören wir selbst:
“Nie ein Baum, nie ein Tropfen Wasser; Sonne und in Wolken aufgewirbelter Staub. In den Wagen, die eben des Staubes und der Sonne wegen geschlossen waren, hatte die Temperatur gewiß fünfzig Grad erreicht.“ Und als die Gesellschaft aussteigt, waren sie alle „weiß vom Staub bis an die Brauen“.
Entnommen sind diese Zeilen dem Roman „Der Leopard“ des italienischen Schriftstellers Giuseppe Tomasi di Lampedusa. In diesem Werk, das zu den bedeutendsten seiner Gattung der Weltliteratur gezählt wird, entfaltet der Autor die Geschichte der alten sizilianischen Adelsfamilie Salina. Die Erzählung setzt ein im Jahr 1860. Garibaldis Truppen landen in Sizilien, der Fall des alten Königreichs beider Sizilien und der Anschluss an ein geeinigtes Italien nehmen ihren Lauf. Und mitten drin die Familie Salina, angeführt von der nicht nur körperlich dominierenden Gestalt des Familienoberhaupts, des Fürsten Don Fabrizio. Anhand zahlreicher Episoden und Einzelereignisse erzählt Tomasi di Lampedusa die Entwicklung der Familie in der neuen Zeit im ständigen Spannungsfeld zwischen Anpassung und Bewahrung. Traditionen und Rituale werden mit stoischer Ruhe aufrechterhalten. Zum Diner wird geladen und Bälle werden glanzvoll wie in besten Zeiten gefeiert. Gleichzeitig verändert sich das Umfeld. Ein neureiches Bürgertum entsteht, nimmt sich seinen Teil an dem wirtschaftlichen Ertrag des Landes und fordert seinen Platz in der Gesellschaft.
Als der Roman 1910 endet, sind große Teile der Besitztümer der Familie Salina in andere Hände übergegangen, der Einfluss der Familie ist Geschichte und aufgrund der überschaubaren Zahl an Nachkommen das Aussterben des großen Geschlechts zumindest in direkter Linie absehbar.

Falls einem bei diesem Ende die Buddenbrooks von Thomas Mann, die Erzählung vom Fall einer hanseatischen Kaufmannsfamilie, in den Sinn kommt, so ist dies sicher nicht ganz abwegig. Neben allen inhaltlichen Ähnlichkeiten gibt es noch eine zentrale Übereinstimmung: Guiseppe Tomasi de Lampedusa und Thomas Mann kannten beide das Objekt ihrer Beschreibung ganz genau, denn beide verpackten die Geschichte ihrer Familie in einen Roman, der in die Literaturgeschichte eingehen sollte und seinem Autor einen dauerhaften Platz unter den großen Literaten sicherte. Eine Auszeichnung mit dem Literaturnobelpreis, wie es bei dem Autor der Buddenbrooks der Fall war, blieb dem schreibenden Adeligen aus Sizilien aber verwehrt. Sein Werk, das er in seinen letzten vier Lebensjahren fertiggestellt hatte, wurde erst 1958, ein Jahr nach seinem Tod, veröffentlicht. Zu Lebzeiten war es Guiseppe di Lampedusa nicht gelungen, einen Verlag für sein Manuskript zu gewinnen. Soweit man es rekonstruieren kann, war er darüber gar nicht so traurig. Kinderlos und damit der letzte seines Geschlechts in direkter Linie, wollte er vor allem die Geschichte seiner Familie für die Nachwelt festzuhalten.
Es waren also seine Urgroßeltern, die sich mit ihren Kindern und ihrem Gefolge auf den beschwerlichen Weg nach Santa Margherita di Belice machten. Hier stand der Sommerpalast der großen, bis ins tiefste Mittelalter zurück verfolgbaren Adelsfamilie Tomasi di Lampedusa, die zu den einflussreichsten Familien Siziliens gehörte. Der schreibende Urgroßenkel, der hier noch viele Monate seiner Kindheit verbringen durfte, nannte den Ort in seinem Roman Donnafugata und beschrieb den Familienpalast genau:
“Der Palast der Salina grenzte an die Mutterkirche. Seine langgezogene niedrige Fassade mit den sieben auf den Platz hinausgehenden Balkonen ließ die über zweihundert Meter sich dahinter erstreckende Unermesslichkeit nicht vermuten; es waren Gebäude verschiedenster Stilrichtungen, jedoch harmonisch um drei große Innenhöfe angelegt, die in einen riesigen, ringsum von Mauern umgebenen Garten übergingen.“

Wie genau er sich in seinem Roman an das originale Vorbild hielt, lässt sich feststellen, wenn man zum Vergleich die „Kindheitserinnerungen“ heranzieht, in denen der Autor ausführlich die Paläste und Gärten seiner Vorfahren beschreibt. Seine Ausführungen zum Palazzo Filangeri-Cutò in Santa Margherita di Belice, den er als eines der schönsten Sommerhäuser bezeichnet, die er je gesehen habe, decken und ergänzen sich mit den Beschreibungen Donnafugatas im Roman. Und dies ist von großer Bedeutung, denn wir können heute nur noch Reste der einst so überwältigenden Anlage mit dreihundert Zimmern, darunter einem eigenen Theater, betrachten. Am 15. Januar 1968 zerstörte ein gewaltiges Erdbeben vierzehn Gemeinden des Belicetals fast vollständig, darunter auch Santa Margherita di Belice. Vom einst so gewaltigen Sommerpalast blieben noch Fassade, Treppenhaus, ein Saal, unzählige Mauerreste und Teile der Kirche. Eine eindrucksvolle Beschreibung des Zustandes in den Jahren nach dem Erbeben finden wir in dem Band „Im Gegenlicht – eine Italienische Reise“ von Joachim Fest, des langjährigen Herausgebers der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.
Der Palast wurde nie wieder in seiner Gesamtheit hergestellt. Aber die noch stehende Fassade des zum Dorfplatz hin ausgerichteten Hauptgebäudes wurde genutzt, um hier ein neues Rathaus zu errichten. In das Treppenhaus und einen Saal zog ein Museum ein, das die Familie Tomasi di Lampedusa, den großen Schriftsteller Guiseppe und vor allem den Roman „Der Leopard“ – im Original übrigens „Il gattopardo“ würdigt. Die Ruinen der Kirche wurden für ein zweites Museum genutzt. Hier wird mit Fotos, Schautafeln und unter den Trümmern geborgenen Objekten dem untergegangenen Dorf und der tragischen Nacht des 15. Januars gedacht.

Steht man vor den Überbleibseln der einstigen Herrlichkeit der Salina/Tomasi di Lampedusa, so kommt man an dem Gedanken nicht vorbei, dass das Erdbeben vollendete, was Guiseppe Tomasi di Lampedusa in seinem Roman beschrieb: den Untergang der Familie. Alle anderen Paläste, Gartenanlagen und Häuser waren spätestens zu Lebzeiten des Autors verloren gegangen. Der Erhalt wurde von Jahrzehnt zu Jahrzehnt schwieriger und irgendwann unmöglich. Selbst der Familienpalast und Stammsitz des Geschlechts im Herzen Palermos musste zuerst teilweise vermietet werden. Im April 1943 ging er endgültig verloren: bei einem amerikanischen Luftangriff auf die Altstadt Palermos wurde er in Schutt und Asche gelegt. In den Ruinen entstand unter Nutzung erhaltener Gebäudereste eine Wohnanlage mit 37 Luxuswohnungen. Auch ein Hinweis auf die nahezu unüberschaubare Größe eines solchen Adelspalastes. Was bleibt ist das literarische Denkmal.

Zweihundert Kilometer östlich von Santa Margherita di Belice findet man übrigens in der Nähe des wunderschönen Barockstädtchens Ragusa ein kleines,  zinnenbekröntes Schlösschen, das tatsächlich Donanfugata heißt. Trotz der Namensgleichheit hat es direkt nichts mit unserem Roman zu tun. Es vermittelt aber einen Eindruck adeligen Lebens im 18. und 19. Jahrhundert. Luchino Visconti, und damit entsteht doch noch eine Verbindung zum Donnafugata des Romans, nutzte den kleinen Palast 1963 für die Dreharbeiten seiner bis heute geschätzten und immer wieder gezeigten Verfilmung des Romas mit Burt Lancaster, Claudia Cardinale und Alain Delon. Sicher hat auch dieser Film zu der bis heute andauernden Popularität des Buches beigetragen und dafür gesorgt, dass der Begriff „Der Leopard“ gerne mit starken Familienoberhäuptern in Verbindung gebracht wird.

Regelmäßig ist der Roman außerdem mit einem Zitat in vielen gesellschaftspolitischen Diskussionen präsent, von dem viele gar nicht mehr wissen, dass es aus „Der Leopard“ stammt: „Wenn wir wollen, dass alles so bleibt, wie es ist, dann ist nötig, dass alles sich verändert.“ sagt der junge Tancredi zum Onkel, dem Fürsten, als er sich den Männern Garibaldis anschließt. (Oder in der neuen Übersetzung von Burkhart Kroeber aus dem Jahr 2019 „Wenn wir wollen, dass alles so bleibt wie es ist, muss alles sich ändern.“)
Auf der Seite "Parco Letterarrio del Gattopardo" sind die Spuren des Leoparden in Santa Margherita in Belice zusammen getragen. Die Seite ist in italienischer Sprache.
Literaturpark - Parco Letterario
Ein kleines Video gibt uns einen Eindruck von Santa Margherita in Belice:
Rundgang durch Santa Margherita in Belice Zurück zur Reiseübersicht
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