Im neuen Roman von Anne Weber, der Trägerin des Deutschen Buchpreises 2020, passiert eigentlich so gut wie nichts. Und trotzdem wird er auf keiner der dreihundert Seiten langweilig. Die gesamte Handlung des Romans besteht aus endlosen Streifzügen der Erzählerin durch die Banlieues von Paris, die Vorstädte mit den endlosen Hochhaussiedlungen, die so oft für negative Schlagzeilen sorgen. Wie so viele Bewohnerinnen und Bewohner der französischen Hauptstadt, die innerhalb des Autobahnrings leben, hat sie diese Banlieues noch so gut wie nie betreten. Höchstens durchkreuzte sie sie einmal auf dem Weg zum Flughafen. Als ihr alter Freund Thierry jedoch den Auftrag erhält, in einem Film die großen Veränderungen zu dokumentieren, die die Olympischen Spiele 2024 in diesen dicht besiedelten Gebieten nach sich ziehen werden, ändert sich dies. Sie entscheidet sich ihn auf seinen langen Recherchewanderungen zu begleiten. Und irgendwann kommt sie dabei zur Überzeugung, dass diese Recherchen nicht nur in einem Film, sondern auch in einem Roman enden sollten. In diesem beschreibt sie die Gebäude, die Siedlungen und die Menschen.
Theirry, ein Mann wohl in seinen Fünfzigern, ist in den Banlieues aufgewachsen und algerischer Abstammung. Aus diesem Gegensatz zur gutbürgerlichen deutsch-französischen Erzählerin (Ähnlichkeiten mit der Autorin sind wohl nicht zufällig) gewinnt der Roman sein Potential. Über Erzählungen Thierrys erfahren die Leserinnen und Leser von den Veränderungen der letzten Jahrzehnte in den Vorstadtsiedlungen, leider oft nicht in die positive Richtung. Ebenso ergibt sich immer wieder ein Blick auf die Geschichte der Menschen aus Nordafrika in Frankreich. Die Dialoge der beiden Protagonisten geben dem Buch seine Würze. Anne Weber erweist sich hier wieder einmal als Meisterin der feinen und pointierten Schreibweise. Mit viel Ironie nehmen sich der Filmemacher und die Schriftstellerin gegenseitig auf die Schippe und zeigen so die jeweiligen Vorurteile auf. Hier bleibt zu hoffen, dass alle Leserinnen und Leser die Ironie und Persiflage verstehen und nicht auf die Idee kommen, jede zynische Bemerkung für eine entsprechende Meinungsäußerung zu halten.
„Bannmeilen“ ist ein Reiseführer in eine Welt, die den meisten von uns unbekannt sein dürfte. An vielen Stellen regt das Buch zum Nachdenken an, an manchen Punkten erschüttert es beinahe. Beispielsweise, wenn lakonisch erzählt wird, wie es gerade eine Straßenseite ist, die eine Siedlung mit feinen Häuschen von einem abrissreifen Hochhaus trennt, in denen sich Menschen ohne Einkommen und Perspektive mehr oder weniger legal aufhalten. Immer wieder stellt man sich beim Lesen die Frage, wo in diesem Buch die Erzählung aufhört und wo die Fiktion beginnt. Diese Frage muss nicht im Detail beantwortet werden, die wesentlichen Elemente des Romans könnten wohl ebenso auf den Reportageseiten großer Tageszeitungen stehen.
Der Roman erweitert den Blick auf die Banlieues, den die beeindruckenden Fotos von Jean-Michel Landon in der Fotoausstellung „La vie des blocs“ in den Reiss-Engelhorn-Museen in der Saison 2023/2024 freigaben. Fast könnte man von einem Buch zur Ausstellung sprechen, wobei die Fotografien von Landon etwas mehr Optimismus ausstrahlten als der Roman. „Bannmeilen“ ist aber auch eine gute Erklärung für all jene, die nachvollziehen wollen, wieso Paris so viel Hoffnung in seine Olympischen Spiele 2024 legt. Nichts weniger als eine Transformation von Teilen der Vorstädte wird erwartet.
„Bannmeilen – Ein Roman in Streifzügen“ von Anne Weber ist erschienen bei Matthes & Seitz Berlin, 301 Seiten, 25 Euro.