Schon über zwei Monate tobt der russische Angriffskrieg in der Ukraine. Intensiv wird in Deutschland die Frage diskutiert, wie vor diesem Hintergrund mit russischer Kultur und russischen Künstlern in Deutschland umgegangen werden soll. Wir stellen Ihnen heute einen Roman vor, der einen Blick ins oppositionelle Russland gewährt, der aber auch erahnen lässt, wieso eine wirkungsvolle Opposition gegen Wladimir Putin schon in den letzten Jahren nicht zustande kam. Und uns erinnert der Roman von Kira Jarmysch daran, dass ein Entsetzen über eine politische Führung und staatliche Handlungen nie auf alle Angehörigen einer Nation übertragen werden darf. Vor zwei Generationen sicherte diese Erkenntnis manchem oppositionellen Deutschen sein Überleben. Mit dieser Überlegung sind wir nahe bei einem Autor, den wir im Juli LeseZeichen begrüßen dürfen: Frido Mann. Er wurde 1940 in Kalifornien geboren, wohin sein Großvater Thomas Mann in den Jahren des Dritten Reichs mit Teilen seiner Familie geflohen war.
Anja Romanowa, gerade fertig mit dem Studium an einer angesehenen Moskauer Hochschule, nimmt an einer Demonstration gegen die Regierung und gegen Korruption teil und wandert für zehn Tage in den Arrest, eine Strafform, die wir in Deutschland nicht kennen und die in Russland vor allem für einfache Ordnungswidrigkeiten verhängt wird. Ihre Zelle teilt sie mit fünf anderen jungen Frauen: Da ist Maja, die in «Brust- und Po-Tuning» investiert, um reichen Männern zu gefallen und ohne gültigen Führerschein Auto gefahren ist, Natascha, die das echte Straflager kennt, oder Irka, die die Alimente für ihre Tochter nicht gezahlt hat. Sechs Leben prallen aufeinander, explosiv und oft sehr komisch, in denen sich das heutige Russland spiegelt: Armut und Reichtum, Freiheitsgeist und Putin-Gläubigkeit, traditionelle Rollen und Aufbruch in die Moderne. Die Willkür und Repression des Systems werden deutlich und manche Stelle lässt die Leserinnen und Leser fassungslos zurück. Beispielsweise, wenn ein junger Polizist in einem kurzen, eigentlich nicht vorgesehenen Gespräch mit der Inhaftierten zur erkennen gibt, dass er die Korruption und das ganze System auch satt habe und sich vielleicht auch den Demonstrationen anschließen möchte. Seine Schlussfolgerung schockiert Anja dann aber: „Wir brauchen eine neue Ordnung im Land.“ – „In Russland gab es nur einen einzigen normalen Herrscher. Unter ihm herrschte Ordnung.“ – „Nämlich?“ – „Stalin“.
Wie viel Autobiographie der Roman enthält, darüber kann spekuliert werden. Manche Parallele des Lebenswegs der Autorin und ihrer Protagonistin drängt sich geradezu auf. Allerdings ging der Weg von Kira Jarmysch weit über den ihrer Romanfigur hinaus: seit 2014 arbeitet sie als Sprecherin von Alexej Nawalny, dem prominentesten Oppositionspolitiker Russlands. Dieser wurde auf Basis abstruser Vorwürfe zu einer mehrjährigen Lagerhaft verurteilt und Jarmysch befindet sich wohl an einem unbekannten Ort im Ausland. In Russland wurde sie kurz nach dem Überfall auf die Ukraine zur Fahndung ausgeschrieben. Wer die zahlreichen Verhaftungen bei den wenigen noch gewagten Demonstrationen in Russland in den letzten Wochen beobachtet hat, kann sich vorstellen, wie sich der Bewegungsspielraum auch für Personen mit dem Profil der Romanfigur Anja in den letzten Wochen noch weiter eingeschränkt hat.
Die Bedeutung des Romans zum Zeitpunkt seines deutschen Erscheinens im September 2021 fasste Jarmyschs Schriftstellerkollegin Lena Gorelik so zusammen: „Dieser Roman offenbart nebenbei so vieles, was man über das heutige Russland weiß und nicht weiß, weil er so politisch ist, ohne belehrend sein zu wollen, im besten Sinn des Wortes aus dem Leben. Und man außerdem richtig laut lachen muss.“ In Russland konnte das Werk in einem oppositionellen Verlag noch erscheinen. Laut Information der Süddeutschen Zeitung wird derzeit geprüft, ob es Propaganda für Suizid, Drogen oder Homosexualität enthält. Alles Themen, die im Buch vorkommen. Und wer die Situation in Russland auch nur ansatzweise kennt, geht davon aus, dass es demnächst auf der Liste der verbotenen Bücher steht.
„Dafuq“ von Kira Jarmysch erschienen im Rowohlt-Verlag, 407 Seiten, 22,-- Euro.