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Hörspiel von Anja Kampmann

Raimund Gründler • 22. Mai 2022

Vom Krieg im 20. Jahrhundert und neuem Schrecken


Mit dem bemerkenswerten Hörspiel „Kein Haus aus Sand“ machte Anja Kampmann in den letzten Tagen auf sich aufmerksam. Das LeseZeichen ist der Leipzigerin eng verbunden, gehörte sie 2018 mit ihrem Debutroman „Wie hoch die Wasser steigen“ doch zu den ersten Gästen der damals noch jungen Lesereihe. Im letzten Jahr beeindruckte sie mit ihrem Lyrikband „Der Hund ist immer hungrig“, den sie im Rahmen eines Lesekonzerts vorstellte.

Die vielseitige Autorin hat sich mit ihrem jüngsten Werk, das im Radioprogramm des SWR ausgestrahlt wurde, wieder einmal Neuland erschlossen. Für dieses Stück nutzt Kampmann die Erinnerungen von Zeitzeugen der Jahre des 2. Weltkriegs und des darauf folgenden Neuanfangs, die durch die Gruppe Arbeit an Europa in ihrem Projekt „European Archive of Voices“ gesammelt wurden. Zu Wort kommen Menschen aus unterschiedlichen Ländern, vom Baltikum, dem Balkan und der Ukraine quer über den Kontinent bis nach Spanien und Irland.  In der akustischen Collage, die aus diesem Material entstand, wird deutlich, welche Eindrücke diese Menschen prägten, die in einer neuen Weltordnung und einem vereinten, friedlichen Europa eine Perspektive für sich und ihre Familien sahen.

Gedacht war das Hörspiel wohl eher als Dokumentation und Rückblick. Durch den russischen Überfall auf die Ukraine bekam die Arbeit aber plötzlich eine beklemmende Aktualität. Die Rückkehr des Krieges nach Europa in den letzten Monaten führt nun dazu, und dies ist die erschreckendste Erkenntnis beim Zuhören, dass bei manchem Text den Hörerinnen und Hörern nicht sofort klar ist, ob es sich um aktuelle Berichte oder die Erzählung einer lange zurück liegenden Erinnerung handelt. Besonders ist dies der Fall, wenn auch noch Kiew oder Mariupol als Ort der Handlung genannt wird. Es sind aber alles Berichte über Ereignisse der Vergangenheit.

Eine zweite Ebene und zusätzlichen aktuellen Bezug erhält das Hörspiel durch eingefügte Gedichte über eine fiktive Stadt im Kriegszustand. Diese Gedichte stammen aus dem 2019 erschienen Werk „Deaf Republik“ des in der Ukraine geborenen und in den USA lebenden Dichters Ilya Kaminsky, das Anja Kampmann in den vergangenen Monaten aus dem Englischen übersetzte. Unter dem Titel „Republik der Taubheit“ wird es in diesen Tagen an den Buchhandel ausgeliefert. Kampmann selbst fasst zusammen: „Mein Stück wird so, mit diesen Stimmen des Archivs, und den Mitteln der Poesie, zu einer Reflektion über die gegenwärtige Situation.“ Erschütternd kommt sie in „Kein Haus aus Sand“ zu der Erkenntnis: "Krieg und Flucht ist vielleicht das berühmteste Buch, das jedes Jahr und auf der ganzen Welt neu geschrieben wird. Krieg und Flucht, diese beiden gehören untrennbar zusammen."

Nachgehört werden kann die Reise zu den Wurzeln Europas in der Mediathek des SWR. Es ist ein lohnendes Erlebnis. Kampmann zeigt mit diesem Hörspiel einmal mehr, wie weit das Feld ist, das sie abdecken kann. Gleichzeitig gibt sie ein deutliches Signal, dass sie in der Tradition vieler Schriftstellerinnen und Schriftsteller mit ihrem Werk und über ihr Werk hinaus in der Lage ist, in öffentliche Diskussionen einzugreifen.

„Kein Haus aus Sand“- Hörspiel von Anja Kampmann
gesprochen von Katja Bürkle, Friedhelm Ptok und Barbara Nüsse sowie mit Stimmen im Originalton aus dem „European Archiv of Voices“.
Einrichtung und Regie: Ulrich Lampen
Ton und Technik: Manfred Seiler und Philipp Stein
Produktion: SWR 2022 in Kooperation mit Arbeit an Europa e.V.

Republik der Taubheit

von Ilya Kaminsky übersetzt durch Anja Kampmann
erscheinen bei Carl Hanser Verlag, 112 Seiten, 22,-- €
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