„Wann kommst Du?“ – wenn diese drei Worte auf einer Postkarte genügen. um einen Mann mittleren Alters aus seinem Alltagstrott herauszureißen und zu einer Fahrt quer durch Europa aufbrechen zu lassen, dann muss schon eine ganz besondere Beziehung zwischen Absenderin und Adressat bestehen. Oder sollte man besser sagen, bestanden haben? Denn die Karte wird in Zürich abgeschickt, nachdem die Schreiberin ihre rumänische Heimat schon etliche Jahre hinter sich gelassen hat.
Mit diesem Aufbruch, dem ein Zusammentreffen in Zürich folgt, eröffnet Iris Wolff ihren Roman „Lichtungen“. Sie erzählt darin von Lev und Kato, die seit ihren Kindertagen in einem kleinen rumänischen Dorf eng miteinander verbunden sind. Was als Freundschaft unter Kindern begann, führte zu einer Liebesbeziehung junger Erwachsener. Wie fest und intensiv diese ist, wird nicht ganz klar, denn die Autorin tritt nicht jede Gefühlsregung ihrer Figuren breit. Manches wird im Unklaren gelassen, mancher Gedanke wird nicht zu Ende gesponnen. In einem Zeitalter, in dem viele junge Menschen in den verschiedenen Online-Medien jede Empfindung der Öffentlichkeit preisgeben und noch breittreten, fällt dies noch mehr auf und steigert den Reiz der Leserinnen und Leser an den Protagonisten.
Unabhängig davon, wie fest die Beziehung des Paares war, den Fall des kommunistischen Regimes und die Öffnung der europäischen Grenzen überlebt sie nicht. Während der junge Mann in seiner Heimat festsitzt, zieht es die dynamischere Kato hinaus in die Welt. Lev bleiben nur ihre gezeichneten Postkarten aus ganz Europa.
Mit „Lichtungen“ schreibt Iris Wolff aber nicht nur die berührende Geschichte einer bemerkenswerten Beziehung. Sie legt auch einen großen europäischen Roman vor, in dem die kulturelle, ethnische und religiöse Vielfalt des Balkans und der große Umbruch in Europa Ende des 20. Jahrhunderts die Handlung wesentlich beeinflussen. Gleichzeitig bringt sie den Leserinnen und Lesern diese Region nahe, die über Jahrzehnte aus dem Bewusstsein der meisten Mitteleuropäer verschwunden war. Manch persönliche Erfahrung oder Familienerfahrung der Autorin dürfte in das Buch eingeflossen sein, ist sie doch 1977 in Hermannstadt in Siebenbürgen geboren. Im Alter von acht Jahren kam sie mit ihrer Familie nach Deutschland. Heute gehört sie zu den gefragtesten zeitgenössischen deutschsprachigen Schriftstellerinnen. Mit ihrem Roman „Die Unschärfe der Welt“ war sie 2020 für den Deutschen und den Bayerischen Buchpreis nominiert, 2021 erhielt sie den renommierten Marie Luise Kaschnitz-Preis und den Preis der LiteraTour Nord. Und mit „Lichtungen“ steht sie 2024 auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis. Dies kam nicht ganz unerwartet. Als das Buch Anfang des Jahres vorgestellt wurde, waren die Feuilletons der großen Zeitungen gefüllt mit positiven Besprechungen und der Literaturkritiker Denis Scheck sprach von einem „ganz großen literarischen Kunstwerk“ und stellte fest, dass das Literaturjahr 2024 mit einem Paukenschlag beginne.