Auch das LeseZeichen streamte Veranstaltungen.
Ziemlich genau zwei Jahre ist es her, dass der erste Coronafall in Deutschland bestätigt wurde. Hätte zu diesem Zeitpunkt jemand die Ereignisse der darauf folgenden Monate prognostiziert, würde man ihm oder ihr vermutlich eine blühende Phantasie bescheinigt und eine rosige Zukunft als neuer Star der Science-Fiction-Szene vorausgesagt haben. Als reale Zukunftsperspektive wären die Gedanken wohl nicht durchgegangen.
Veränderungen und Einschränkungen, wie sie dann recht schnell notwendig wurden, lagen vor zwei Jahren außerhalb aller realistischen Vorstellungen. Vieles, was wenige Tage zuvor noch selbstverständlich war, wurde unmöglich. Vom gemeinsamen Abendessen mit Freunden über den Einkaufsbummel und Kurzurlaub bis hin zum Theaterbesuch. Rückzug, Abschottung und Selbstisolation hießen die Gebote der Stunde. Alles Verhaltensweisen, die ein übliches soziales Leben unmöglich machen – und ebenso das kulturelle - sieht man einmal von der einsam in ihrer Schreibstube um einen Wortfluss kämpfenden Autorin und dem in einer ruhigen Ecke vor sich hinschmökernden Leser ab. Und selbst da gab es viele, die die stimulierende Atmosphäre eines Kaffeehauses vermissten. Diese Einrichtung als Ort der Kreativität scheint doch mehr als ein Klischee zu sein.
Erfreulicherweise wurde aber nicht nur Wegfallendes beklagt. Gerade im Kulturleben entstanden rasch neue Formate und Angebote. Ein kleines Beispiel dafür ist unsere Literaturinitiative LeseZeichen. Als die klassischen Veranstaltungen, die bis dahin die Arbeit überwiegend prägten, wegfielen, wurden Alternativen gesucht und gefunden. Der regelmäßige Newsletter ist ein Ergebnis dieser Suche. Ursprünglich gedacht, um den Kontakt zum Stammpublikum zu halten, hat er sich zu einem eigenständigen Element im Programm entwickelt. Alle vierzehn Tage werden Informationen rund um die Welt der Literatur an die beständig wachsende Leserschar verschickt. Auch wenn ein Schwerpunkt der Nachrichten in Mannheim und der Rhein-Neckar-Region liegt, wächst die Zahl der Abonnenten auch überregional kontinuierlich.
Ebenso waren Veranstaltungen unter freiem Himmel und Übertragungen von Lesungen ins Internet Neuland für das LeseZeichen. Wer die Lesung mit Wolfgang Bunzel zu Bettine von Arnim oder den Abend mit Marion Tauschwitz im Gedenken an Hilde Domin im Zeughausgarten der Reiss-Engelhorn-Museen erlebte, hätte sich keinen passenderen Ort für diese Abende vorstellen können. Die Sommerbühne hinter dem Museum war aber nur entstanden, um Kulturveranstaltern eine aerosolensichere Veranstaltungsmöglichkeit in den Sommermonaten zu bieten. Dem Partner MARCHIVUM verdankt das LeseZeichen wiederum die Erfahrung mit gestreamten Lesungen. Das Mannheimer Archiv wollte seine oft lange geplanten Veranstaltungen nicht einfach absagen. So wurden sie auch in den Zeiten, als kein Publikum vor Ort sein konnte, durchgeführt und ins Internet übertragen. Das galt auch für die Kooperationsveranstaltungen mit dem LeseZeichen, den Lesungen mit Jana Hensel, Frank Winter und Ira Peter. Natürlich fehlte der direkte Kontakt zum Publikum. Andererseits wurden an jedem der Abende mehr Gäste begrüßt, als im MARCHIVUM Platz gehabt hätten. Ein weiterer Vorteil ist, dass die letzte Lesung sogar länger online abrufbar bleibt. Mit
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gelangen Sie zur Lesung mit Ira Peter.
Eine Frage, die wir uns jetzt schon stellen, ist natürlich: „Was wird von diesen Neuerungen bleiben, wenn Corona einmal nur noch eine unschöne Erinnerung ist?“ Bei Newsletter und Freiluftlesungen ist die Antwort einfach. Hierzu braucht es keine Pandemie, um diese Dinge zu schätzen. Sie sind einfach gut und werden bleiben. Aber wie geht es mit den Online-Veranstaltungen weiter? Sicher ist es sinnvoll, den Blick in dieser Frage etwas über die Mannheimer Region hinaus schweifen zu lassen. Für die Literatur stellte sich die Situation in den zwei Pandemiejahren folgendermaßen dar: die Buchmessen gingen mit ihrem Veranstaltungsprogramm online, Verlage streamten und nahezu jedes Literaturhaus wurde zum digitalen Sender. Hinzu kamen die Bloggerinnen und Buchexperten, die über Instagram ihre Live-Gespräche anboten. Fast jeden Abend war für das literarisch interessierte Publikum etwas geboten. Die Praxis, viele Streams langfristig in Mediatheken oder auf Plattformen, wie zum Beispiel Youtube, einzustellen, vergrößerte die Auswahl um ein Vielfaches. Wird diese Fülle bleiben? Werden die Veranstalter auch weiterhin übertragen, wenn gleichzeitig Publikum im Saal wieder erlaubt ist? Hybrid heißt das Zauberwort für diese Veranstaltungsform, die derzeit schon kräftig erprobt wird.
Einig sind sich alle Akteure der Literaturszene, egal ob Autor oder Kritikerin, Moderatorin oder Veranstalter, dass der direkte Kontakt mit dem Publikum durch nichts zu ersetzen ist. Umgekehrt gibt es viele Leserinnen und Leser, die einmal die Person direkt erleben möchten, die hinter dem geschätzten Buch steckt. Auch eine Widmung ins Buch bekommt man digital nicht. Die große Resonanz auf die gestreamten Veranstaltungen zeigt aber, dass auch digitale Formate angenommen werden. Es stellt sich nur die Frage, ob sie lediglich als Ersatz und Notlösung angeboten und akzeptiert wurden oder ob sie sich dauerhaft und pandemieunabhängig etablieren können. Losgelöst von der Einschätzung der Erwartungen des Publikums kommen aus der Literaturszene Stimmen, die eine Entwertung der klassischen Veranstaltungen durch die Übertragung ins Internet vermuten. Ebenso wurde schon die Befürchtung geäußert, das sowieso schon knapper werdende Angebot an Lesemöglichkeiten für Autorinnen und Autoren könne sich weiter verringern. Eine Präsenzlesung vor Publikum kann in jeder Stadt neu angeboten werden. Dagegen genügt theoretisch eine einzige Online-Lesung um alle Interessierten zu erreichen, vollkommen unabhängig von ihrem Wohnort.
Eigentlich führen wir hier die gleiche Diskussion, die sich bei der Frage „live dabei oder Fernsehprogramm“ schon seit Jahrzehnten stellt. Aufgrund der Erfahrung mit den Auswirkungen dieses Mediums sei an dieser Stelle eine Prognose gewagt: der Veranstaltungsbereich wird auch gegen die neue Konkurrenz bestehen. Je stärker die Sorge vor Ansteckung in den kommenden Monaten sinken wird, desto mehr wird der Wunsch nach direktem Erlebnis wieder steigen. Dies belegten bereits 2021 die begeisterten Reaktionen, mit der die unterschiedlichen Sommerveranstaltungen angenommen wurden. Das Fernsehen hat dieses Bedürfnis nicht überflüssig gemacht und das Internet wird dies auch nicht tun.
Langfristiger Verlierer könnte aber das klassische Fernsehen werden. Das interessierte Publikum hat sich an die Vielfalt der Angebote gewöhnt. Eine ins Internet gestreamte Lesung aus dem Literaturhaus Frankfurt wird als konkrete Alternative zum Fernsehprogramm wahrgenommen. Die fortwährende Ausdünnung der Literaturformate im Fernsehen wirkt dabei als Chancenverstärker für die digitale Konkurrenz im Internet.
Was die gedruckte Presse schon seit einigen Jahren erleben muss, wird sich im Bereich Fernsehen nun fortsetzen: die klassischen Anbieter verlieren mehr und mehr die Bedeutung, die Themen zu setzen, mit denen sich die Leserinnen und Leser bzw. Zuschauerinnen und Zuschauer befassen können bzw. sollen. Gleichberechtigt und auf gleichen Wegen zu beziehen, bewegt sich nun eine bunte Vielfalt von Produzenten. Schon seit vielen Jahren wird diese Entwicklung unter dem Stichwort „jeder kann zum Sender werden“ beschrieben. War diese Entwicklung bisher aber oft von Einzelpersonen getrieben, die sich mit ihrem Blog oder Youtubekanal teilweise eine erstaunlich große Resonanz geschaffen haben, scheint sich die Entwicklung nun in die Richtung zu verändern, dass Veranstalter gleichzeitig ihr eigener Sender werden. Im Sport war diese Entwicklung schon vor der Coronapandemie zu beobachten. Sportarten, die nicht ausreichend Fernsehzeiten erhielten, entwickelten ihre eigenen Formate im Internet, teilweise mit sehr gutem Erfolg. Es wäre nicht überraschend, wenn dieser Trend zu veranstaltergetriebenen Sendungsformaten sich nun auch in der Kulturszene weiterentwickeln würde, durchaus auch in Kooperation mehrerer Akteure. Wie wäre es mit einem gemeinsamen Portal der Literaturhäuser? Oder einem Angebot des Börsenvereins mit dem er seine Mitglieder unterstützt?
Egal, wie die Aktivitäten aufgebaut werden, es wird vermutlich nicht den Verlierer „Veranstaltungen“, sondern den Gewinner „literarische Szene“ geben, der von einer großen zusätzlichen Öffentlichkeit profitieren wird.
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