Die 44. Tage der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt gingen am vergangenen Sonntag mit der Verleihung der Preise zu Ende. Mit Helga Schubert wurde eine Autorin mit dem Bachmannpreis ausgezeichnet, die ihre ganz eigene Geschichte mit in den Wettbewerb brachte. Vor vierzig Jahren erstmals nach Klagenfurt eingeladen, konnte sie die Einladung damals nicht annehmen. Die Kulturbehörden der DDR verweigerten ihr die Ausreise nach Österreich. Offensichtlich fürchtete man sich vor einem erneuten negativen DDR-Bild, nachdem zwei Jahre zuvor Ulrich Plenzdorf mit einem regimekritischen Beitrag gewonnen hatte. Außerdem wollte man dem Eindruck einer gesamtdeutschen Literatur entgegen wirken.
Auch in diesem Jahr konnte Helga Schubert nicht nach Klagenfurt reisen. Corona verhinderte dies. Aber der Wettbewerb fand als Fernseh- und Digitalereignis statt und löste mindestens so viel Aufmerksamkeit wie in den vergangenen Jahren aus, als sich die Literaturwelt im Juni ganz klassisch am Wörthersee versammelte. Da darf schon einmal die Frage gestellt werden, wieso gerade die Tage der deutschsprachigen Literatur, die in diesem Jahr zum vierundvierzigsten Mal stattfanden, mit der Verleihung des Bachmannpreises so eine hohe Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Denn insgesamt gibt es sehr viele Literaturpreise im deutschsprachigen Raum, manche ähnlich gut dotiert wie die Klagenfurter Veranstaltung, und trotzdem zieht kaum einer eine solche Resonanz und eine so breite Medienberichterstattung auf sich. Auch der weitere Weg der Gewinnerinnen und Gewinner seit 1977 begründet nicht das überdurchschnittliche Interesse. Natürlich wurden hier schon erfolgreiche Schriftstellerlaufbahn gestartet. Man denke an Sibylle Lewitscharoff, Uwe Tellkamp oder Lutz Seiler. Aber manche Preisträgerin und mancher Preisträger ist bis heute eher dem interessierten Fachpublikum interessant. 2020 war insofern eine Ausnahme, da mit Helga Schubert eine Autorin gewann, die längst ihren festen Platz in der literarischen Wahrnehmung hat und niemanden mehr etwas beweisen musste. Wobei ihr Wettbewerbsbeitrag „Vom Aufstehen“ so überzeugend war, dass wohl nicht ein Beobachter auf die Idee verfallen wäre, hier würde eine Lebensleistung gewürdigt.
Und damit sind wir an einem ganz zentralen Punkt bei der Suche nach der Besonderheit des Bachmannpreises. Es ist das Veranstaltungsformat, das in Details immer weiterentwickelt wurde, aber im Grundprinzip seit 1978 Bestand hat. Die Autorinnen und Autoren müssen sich um die Teilnahme mit einem bisher unveröffentlichten Text bewerben. Jeder Juror wählt zwei Beiträge aus, die dann bei den Tagen der deutschen Literatur in Klagenfurt vorgetragen wird. Im direkten Anschluss an den Vortrag und in Anwesenheit des Autors erfolgt die öffentliche Diskussion der Jury. Auch die abschließende Abstimmung erfolgt öffentlich. Vermutlich ist es dieser exklusive Charakter der speziell für Klagenfurt geschriebenen Literatur, verbunden mit dem Wettkampfcharakter und der offenen Diskussion, die den Bachmannpreis so aus der Vielzahl der Preise heraushebt und viele Literaturfreunde dazu verleitet, im Juni nach Klagenfurt zu fahren oder ganze Sommertage vor dem Fernseher zu verbringen.
2020 hatten die Veranstalter nun die Herausforderung, aus dem im Fernsehen übertragenen Live-Ereignis ein reines Fernseh- und Digitalereignis zu gestalten. Kurz und knapp kann festgestellt werden, dass dies besser gelang, als viele Skeptiker erwartet hätten. Aufgezeichnete Element wurden geschickt mit live übertragenen Veranstaltungsteilen zu einer stimmigen Veranstaltung kombiniert. Es machte Freude, die Tage der deutschsprachigen Literatur im Fernsehen oder Internet zu verfolgen.
Da die vierzehn eingeladenen Autorinnen und Autoren nicht in der gewohnten Form vor Jury und Publikum lesen konnten, wurden ihre Beiträge vorher aufgezeichnet. Im üblichen Ablaufrhythmus des Wettbewerbs wurden die Lesungen auf drei Tage verteilt abgespielt. Direkt im Anschluss an jeden Beitrag diskutierte die siebenköpfige Jury per Videokonferenz aus ihren Büros in Berlin, Wien, Köln oder Zürich heraus. Wie gewohnt, wurden Lesungen und Jurydiskussion live in Fernsehen, Radio und Internet übertragen. Die Jurydiskussionen litten nicht unter der räumlichen Distanz der Jurorinnen und Juroren. Sie waren ein Erlebnis. Intensiv, emotional und manchmal durchaus ins persönliche gehend, diskutierten die vier Männer und drei Frauen der Jury die gehörten Beiträge. Teilweise waren es regelrechte Lehrsunden für literaturinteressierte Laien. Brilliant in dieser Jury übrigens die in Mannheim als Programmdirektorin des Festivals lesen.hören gut bekannte Literaturkritikerin Insa Wilke. Ihre Ausführungen vermittelten einen Eindruck davon, was fundierte Literaturkritik ausmacht. Köstlich wie sie einen Kollegen zur Textarbeit einlud.
Die lebhafte Diskussion setzte sich unter dem interessierten Publikum fort. Vor allem auf der Internetplattform Twitter ging es so lebhaft zu wie bisher in den Sälen und auf den Plätzen in Klagenfurt. Diese rege Diskussion, die üppigen Sendezeiten bei 3sat, die große Resonanz in den Printmedien, senden gemeinsam ein positives Signal: Literatur kann auch im digitalen Zeitalter ein großes öffentliches Interesse auslösen du ihren Platz finden. Ein wenig gehen bei diesen Erkenntnissen die Gedanken zurück an den legendären Marcel Reich-Ranicki, dessen 100. Geburtstag vor wenigen Tagen gedacht wurde. Als Anfang der sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts Kulturjournalisten vor der Bedrohung des Kulturguts Buch durch das Fernsehen warnten und sogar den Begriff Urfehde verwendeten, widersprach er vehement. Er sah die große Chance eines Bündnisses zwischen den Medien Buch und Fernsehen. Und er war es letztlich, der die Buchkritik ins Fernsehen brachte und sie vor allem fernsehtauglich machte. Der Erfolg bestätigte ihn.
Wir gratulieren den Verantwortlichen der 44. Tage der deutschsprachigen Literatur und sind gespannt auf den Wettbewerb im kommenden Jahr. Dann hoffentlich wieder mit Lesungen vor Publikum in Klagenfurt. Aber hoffentlich auch wieder mit einem lebendigen Programm in der virtuellen Welt.
Auf der Homepage des Bachmannpreises können alle Lesungen und alle Jurydiskussionen abgerufen werden. Es lohnt sich, mit etwas Muße auf dieser Seite zu verweilen.