19. Juni 2020:
„Das Auge isst mit“. Wer kennt diese Redewendung nicht? Sofort schweifen die Gedanken zu einem besonders liebevoll angerichteten und dekorierten Teller oder einer reich verzierten Torte, einem wahren Kunstwerk. Im übertragenen Sinne isst das Auge in fast jedem Lebensbereich mit. Besonders gut passt es auch zur Literatur. Die Art der Gestaltung des Buches kann aus einem guten und lesenswerten Text ein Gesamtkunstwerk machen, das genau dieses Buch aus der Fülle der veröffentlichten Texte heraushebt. Bestimmte Verlage haben sich hier zu regelrechten Spezialisten entwickelt und manches mit deren Büchern gestaltete Buchhandlungsschaufenster kann gelegentlich mit einer Galerie verwechselt werden.
Seit vielen Jahren rückt die Stiftung Buchkunst mit mehreren Wettbewerben diesen Aspekt der Buchproduktion in den Mittelpunkt. Sie motiviert Verleger, sich intensiv mit der Präsentation ihrer Inhalte zu befassen. Anfang der Woche wurden Preisträger des Wettbewerbs „Die schönsten Bücher des Jahres 2020“ bekannt gegeben. Es sind 25 ganz unterschiedliche Bücher, die ausgezeichnet werden: Romane und Sachbücher, wissenschaftliche Publikationen und Architekturbände. Und nicht zu vergessen: Kinder – und Jugendbücher.
Das LeseZeichen gratuliert allen Preisträgern und freut sich ganz besonders über den Preis für den Verlag Die Andere Bibliothek. Mit diesem Haus arbeiten wir eng zusammen. Im Jahr 2019 wurden die Bücher „Monsieur Göthe – Goethes unbekannter Großvater“ und „Nachkrieg und die Trümmer von Ostpreußen“ im Rahmen von zwei sehr schönen Lesungen vorgestellt. Auch 2020 waren wieder zwei Termine geplant. Simplicissimus und Bettine von Arnim sollten in diesem Jahr im Mittelpunkt stehen. Die Corona-Pandemie verhinderte dies vorläufig.
1984 begründeten der Schriftsteller und Publizist Hans Magnus Enzensberger und der Verleger und Buchgestalter Franz Greno „Die Andere Bibliothek“ mit dem Anspruch, intellektuelles und visuelles Vergnügen zu verbinden. Der jüngste Preis, der bei weitem nicht der erste ist, zeigt dass der Verlag dieses Ziel bis heute erreicht. Ausgezeichnet aus dem Programm der Berliner Buchspezialisten wurde „Die Pfingstrosenlaterne“, eine japanische Gespenstergeschichte aus dem 17. Jahrhundert. Ein typisches Buch für Die Andere Bibliothek. Oft sind es alte, lange vergriffene Texte oder Texte aus anderen Kulturen und Sprachräumen, die in neuer Edition und großartiger Gestaltung für die Leserinnen und Leser des 21. Jahrhunderts interessant werden.
Alle verwendeten Materialien werden mit Hingabe ausgesucht, stilsicher gestaltet und mit hoher Qualität verarbeitet. Eine Besonderheit ist die „Umhüllung“. Die hochwertigen Bücher werden nicht einfach in einen bunt bedruckten Schutzumschlag gepackt. Sie werden in einen Schuber aus Karton gesteckt, der an den zwei schmalen Längsseiten offen ist, in der Terminologie des Verlags Schlaufe genannt. Diese Schlaufe wird gemeinsam mit dem Einband gestaltet. Oft ist der Karton an einzelnen Stellen durchbrochen und erlaubt einen Blick auf den darunter liegenden Einband. Eine Fortsetzung der wertvollen Gestaltung im Innenteil der Bücher versteht sich von selbst. Welch große Bedeutung der Verlag der Gestaltung seiner Bücher beimisst, zeigt sich auf der Homepage. Unter der Rubrik „Buchkunst“ erläutern die Gestalterinnen und Gestalter der einzelnen Bände, welche Gedanken und Ideen sie bei der Entwicklung „ihres“ Buches geleitet haben.
https://www.die-andere-bibliothek.de/index.php?mt=bk
Diese individuelle Gestaltungsqualität wird auch in der Begründung der Jury für die Aufnahme der Pfingstrosenlaterne in die schönsten Bücher des Jahres deutlich:
„Man hat den Pappband noch nicht aus seiner Umhüllung gezogen, schon ist man gebannt von seiner Allseitigkeit, da alle sechs Seiten des Buch-Schuberkörpers mit der gleichen Aufmerksamkeit in die Gesamtgestaltung einbezogen wurden – selbst Kopf- und Stehfläche. Der beidseitig offene Schuber gewährt den Blick nicht nur auf den Rücken, sondern ebenso auf den Vorderschnitt des inwendigen Buches; dessen Lineament durch angeschnittene Farbseiten verspricht eine reichhaltige Bebilderung. Den Schuber ziert eine holzgeschnittene Illustration in traditioneller japanischer Bildtechnik. Ihr typischer Reiz besteht in der Ambivalenz von Flächigkeit und Raumtiefe.
Den Bucheinband selbst überzieht ein weiterer Holzschnitt, der Buchtitel erscheint lediglich auf dem eingelegten Rückenschildchen aus glänzend blutrotem Papier, so rot wie Kapitalband und Lesebändchen…..“
Das sind Reize, die ein E-Book auf einem noch so leistungsstarken Reader nicht bieten kann.