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LeseTipp: Alles was Sie sehen ist neu

Raimund Gründler • 14. Juni 2020

"Alles was Sie sehen ist neu" -
Erzählung mit überraschenden Wendungen


Vor wenigen Tagen wurde bekannt gegeben, dass Annette Pehnt für diesen Roman 2020 mit dem Rheingau Literatur Preis ausgezeichnet wird. Und die Entscheidung ist gut nachvollziehbar. Denn „Alles was Sie hier sehen“ ist ein besonderer Roman, der zahlreiche überraschende Momente bereit hält. Weniger in der Geschichte selbst. Diese ist eher unspektakulär. Der Roman lebt vom beständigen Wechsel der Erzählperspektiven und der nie erwartbaren Szenenfolge.
Annette Pehnt beginnt mit der Schilderung der Ankunft einer Reisegruppe an einem fiktiven asiatischen Ort namens Kirthan. Ob Stadt oder Land ist zu Beginn nicht sofort klar. Nime, der Reiseleiter mit einer Stimme wie ein Märchenerzähler, führt die Gruppe durch die ersten Tage. Er zeigt ihnen den Tempel der ewigen Freundlichkeit, die schnurgeraden Prachtstraßen und das asiatische Essen. Wenn sich die Leserinnen und Leser nun gerade gemütlich in der Beobachtung einer buntgemischten Gruppe Kulturreisender eingerichtet haben, erfolgt der erste Bruch des Buches. Die folgenden Kapitel verlassen die Reisegruppe und widmen sich der Lebensgeschichte des Reiseleiters.
Ein interessanter Ansatz der Autorin ist hierbei, von Kapitel zu Kapitel den Erzähler, der jeweils in der Ich-Form erzählt, auszuwechseln. Meist sind es übrigens Erzählerinnen. Nimes Schulzeit wird aus der Sicht einer Lehrerin geschildert. Über die Vorbereitung auf die überaus harte Schulabschlussprüfung erzählt eine Mitschülerin, die spätere Mutter seiner Kinder. Und so geht es weiter durch Ausbildung und Berufsstart. Die Anforderung, sich einzureihen und unterzuordnen zieht sich wie ein roter Faden durch das Buch. Aber ganz beiläufig werden weitere  Gesellschaftsprobleme angesprochen. Junge Menschen verlassen das Land und ziehen in die Stadt. Ihre Kinder bleiben bei überforderten Großeltern zurück. Wanderarbeiter, die unter unmenschlichen Bedingungen leben und arbeiten. Der Name Kirthan und die Verortung der Handlung im asiatischen Raum legt die Assoziation mit China nahe. Aber spätestens bei den alleine gelassenen Kindern könnte der Blick auch auf europäische Regionen fallen.
Bemerkenswert auch der sprachliche Stil, den Annette Pehnt gewählt hat. Der Roman beeindruckt durch seine klare, nüchterne, manchmal sogar karge Sprache. Gerade diese Sprache sorgt dafür, dass die harte Realität des Alltags die Leserinnen und Leser voll erreicht.
Ein lesenswertes Buch. Auf den ersten Blick eine Aufforderung, sich Gedanken über die künstlich erzeugten Scheinwelten im internationalen Tourismusalltag Gedanken zu machen. Auf den zweiten Blick eine schonungslose Analyse gesellschaftlicher Verhaltensmuster, nicht unbedingt ausschließlich beschränkt auf totalitäre Systeme.
von Raimund Gründler 26. Januar 2025
Am 27. Januar 2025 jährt sich zum 80igsten Mal die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz. Seit 1996 wird dieser Tag in Deutschland als offizieller Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus begangen, 2005 erklärten ihn die Vereinten Nationen zum Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust. In einer Zeit, in der Dinge, die jahrzehntelang als unsagbar galten, plötzlich wieder ungeniert verbreitet werden, in einer Zeit, in der wieder die Entrechtung von Menschen gefordert wird, ist so ein Gedenktag wichtiger und notwendiger denn je. Dabei kommt den Stimmen der Überlebenden eine ganz besondere Bedeutung zu. Sie dürfen nicht in Vergessenheit geraten und müssen uns Mahnung für unser Handeln sein. Achtzig Jahre nach dem Zusammenbruch des nationalsozialistischen Terrorsystems wird die Zahl der Zeitzeugen leider von Jahr zu Jahr geringer. Immer weniger Menschen können den nachfolgenden Generationen aus eigener Erfahrung von den Schrecken der nationalsozialistischen Herrschaft berichten. Immer seltener werden damit die Stimmen, die aus eigenem Erleben berichten können, zu welchen Exzessen totalitäre Systeme führen können und was es bedeutet, wenn die Bewahrung der Würde jedes einzelnen Menschen unabhängig von seiner Herkunft und Religion nicht mehr oberste Maxime eines Staates ist. Umso wichtiger ist es, dass die Texte, die uns Überlebende hinterlassen haben, von Generation zu Generation weitergegeben werden. Sie machen am Einzelschicksal deutlich, was die totale Entrechtung jeweils für einen einzelnen Menschen bedeutete. Solche Bücher müssen immer wieder neu diskutiert und weiter gegeben werden damit die Erinnerungen dieser Menschen im öffentlichen Gedächtnis nicht verblassen. Drei dieser Bücher wollen wir Ihnen heute am Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus besonders empfehlen. Max Mannheimer: Drei Leben - Erinnerungen „Drei Leben“ das sind die unbeschwerte Jugend vor dem Anschluss des Sudentenlandes an das Deutsche Reich, das Überleben der Konzentrationslager Auschwitz und Dachau, und das Leben danach, das Mannheimer trotz seiner Erlebnisse tatkräftig und optimistisch gestaltete. Primo Levi: Ist das ein Mensch Der Bericht des italienischen Ausschwitz-Überlebenden wurde bereits 1947 veröffentlicht. Er gehört also zu den frühesten niedergeschriebenen Zeugnissen. Bis heute gilt er als eine der eindrucksvollsten Beschreibungen des Terrors und des Schreckens in den Konzentrationslagern. Ginette Kolinka: Rückkehr nach Birkenau – Wie ich überlebt habe Kolinka wurde aus ihrer französischen Heimat nach Auschwitz verbracht. Durch den nüchternen Stil ihrer Erzählung erfassen die Schrecken des Lageralltags mit Angst, Hunger, Dreck und Gestank die Leserinnen und Leser besonders unvermittelt. Dies sind nur drei Leseempfehlungen. Viele andere Lesenswerte Bücher bleiben ungenannt. Eine viel umfassendere Liste hat das Kulturmagazin Perlentaucher zusammengestellt, die wir Ihnen empfehlen und die Sie hier finden .
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