K Logistics

Blog-Layout

LeseTipp -Dämonenräumdienst von Marcel Beyer

Manfred Klenk • 6. September 2020

Neuer Poesieband von Marcel Beyer überzeugt.


Die druckfrische Poesie von Marcel Beyer „Dämonenräumdienst“ überrascht den Leser von Strophe zu Strophe, wieder und wieder. Gedanken stolpern über Erinnerungsfallen, die sie fortwährend inspirierend beschäftigen.

Unerhörte Begebenheiten tragen sich zu in Marcel Beyers neuen Gedichten, jedes Poem, exakt 40 Verszeilen lang, in übersichtlichen Vierer-Päckchen zusammengeschnürt.
Jedes Gedicht gebiert eine andere Figur, die sich mit den Untoten der Popkultur, der damit einher schwebenden Konsumgüterwelt beschäftigt und deren Zumutungen schonungslos aufzeigt - mit wenigen Worten:
 
        „Geister sind das, hier in deiner
         Bude, deren letzte Winkel
         die Tchibo-Taschenlampe nicht
         erfaßt.“

Mit dem leichten Ton seiner Gedichte greift Marcel Beyer in die zähe, klebrige Masse der Erinnerung, durch welche die Verse mittels Zitate und Collagen waten. Beengte Seelen-/Lebensräume werden sichtbar. Marcel Beyers Stärken: Sparsam gewählte Worte offenbaren sich, sagen mehr über die Vergangenheit
des lyrischen Ichs:

        "In meines Vaters Haus sind viele
         Wohnungen. Ich möchte keine
         einzige von innen sehn. Parterre
         Steht man knöcheltief in Marzipan.“

Die Gedichte werden zur Fluchtbewegung, die bei jedem Versuch gedanklicher Domestizierung von der Kindheit wieder eingeholt werden. Die Autorenstimme sagt: er schreibe diese Gedichte
„wie ein Kind, das heimlich / tut und einfach froh ist, wenn / niemand mit ihm schimpft“ – doch diese Selbstanalyse ist alles andere als kindlich, sie offenbart einen gereiften Blick auf die verborgene Düsternis unserer noch immer von Dämonen besetzte Erinnerung. Vom Knabenchor zum Dental-Labor (und daheim ins Schlaflabor): im „ersten Stock / greift einem etwas in den Schritt.“ –
Das dunkle Kinderzimmer wird als „Blutbude“ bezeichnet; Freiheit und so etwas wie Glück gibt es nur außerhalb.
                                          
Sprachliche und seelische Abgründe werden heimgesucht:
Marcel Beyer geht ein hohes Risiko ein, wenn er mit seinem Gedicht „Ginster“ Paul Celans „Todesfuge“ in neue Worte fasst. Beyer lässt den Ginster in den Vorgärten des Dresdner Vorortes Strehlen wachsen und paraphrasiert damit die Bildwelt der „Todesfuge“ –

Der Tod ist hier kein „Meister aus Deutschland“, sondern „ein Arschloch aus Strehlen“, der “mit seiner schwarzen Zunge / die Blüten des Ginsters berührt“. Die Pflanze „Ginster“ ist hochgiftig. Ein politischer Fingerzeig auf den wachsenden Alltagsrassismus in Beyers Wahlheimat Dresden.

Ein leichter Ton trotz ernster Thematik. Verletzliche Figuren begegnen den Ungeheuern aus Kindertagen, welche mit den „Zombies der Pop-Kultur“ die Erinnerungen begleiten. Am Wertstoffhof läuft Musik. Elvis fegt noch einmal die Einfahrt. Und Moshammer:

"Moshammer. Ein Wort wie Baggerblut.
Der Name flößt Vertrauen ein.
So möchte man doch heißen. Doch du
Heißt Daisy und lässt dich leicht durch

Einen milden Münchner Abend tragen.“
(…)

In jedem Poem Figuren, die Geschichten erzählen, die es bunt treiben, manchmal auch wild – am Ende wird es ernst. Da wird es höchste Zeit, den „Dämonenräumdienst“ zu rufen.  – Lesenswert!

Marcel Beyer wurde 1965 in Tailfingen geboren, aufgewachsen ist er in Kiel und Neuss. Er studierte in Siegen, lebte in London, in Berlin und seit 1996 im Dresdener Stadtteil Strehlen.
Für sein Werk wurde er mit zahlreichen renommierten Preisen ausgezeichnet, zuletzt mit dem Georg-Büchner-Preis 2016 und dem Lessing-Preis des Freistaates Sachsen 2019.

von Raimund Gründler 26. Januar 2025
Am 27. Januar 2025 jährt sich zum 80igsten Mal die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz. Seit 1996 wird dieser Tag in Deutschland als offizieller Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus begangen, 2005 erklärten ihn die Vereinten Nationen zum Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust. In einer Zeit, in der Dinge, die jahrzehntelang als unsagbar galten, plötzlich wieder ungeniert verbreitet werden, in einer Zeit, in der wieder die Entrechtung von Menschen gefordert wird, ist so ein Gedenktag wichtiger und notwendiger denn je. Dabei kommt den Stimmen der Überlebenden eine ganz besondere Bedeutung zu. Sie dürfen nicht in Vergessenheit geraten und müssen uns Mahnung für unser Handeln sein. Achtzig Jahre nach dem Zusammenbruch des nationalsozialistischen Terrorsystems wird die Zahl der Zeitzeugen leider von Jahr zu Jahr geringer. Immer weniger Menschen können den nachfolgenden Generationen aus eigener Erfahrung von den Schrecken der nationalsozialistischen Herrschaft berichten. Immer seltener werden damit die Stimmen, die aus eigenem Erleben berichten können, zu welchen Exzessen totalitäre Systeme führen können und was es bedeutet, wenn die Bewahrung der Würde jedes einzelnen Menschen unabhängig von seiner Herkunft und Religion nicht mehr oberste Maxime eines Staates ist. Umso wichtiger ist es, dass die Texte, die uns Überlebende hinterlassen haben, von Generation zu Generation weitergegeben werden. Sie machen am Einzelschicksal deutlich, was die totale Entrechtung jeweils für einen einzelnen Menschen bedeutete. Solche Bücher müssen immer wieder neu diskutiert und weiter gegeben werden damit die Erinnerungen dieser Menschen im öffentlichen Gedächtnis nicht verblassen. Drei dieser Bücher wollen wir Ihnen heute am Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus besonders empfehlen. Max Mannheimer: Drei Leben - Erinnerungen „Drei Leben“ das sind die unbeschwerte Jugend vor dem Anschluss des Sudentenlandes an das Deutsche Reich, das Überleben der Konzentrationslager Auschwitz und Dachau, und das Leben danach, das Mannheimer trotz seiner Erlebnisse tatkräftig und optimistisch gestaltete. Primo Levi: Ist das ein Mensch Der Bericht des italienischen Ausschwitz-Überlebenden wurde bereits 1947 veröffentlicht. Er gehört also zu den frühesten niedergeschriebenen Zeugnissen. Bis heute gilt er als eine der eindrucksvollsten Beschreibungen des Terrors und des Schreckens in den Konzentrationslagern. Ginette Kolinka: Rückkehr nach Birkenau – Wie ich überlebt habe Kolinka wurde aus ihrer französischen Heimat nach Auschwitz verbracht. Durch den nüchternen Stil ihrer Erzählung erfassen die Schrecken des Lageralltags mit Angst, Hunger, Dreck und Gestank die Leserinnen und Leser besonders unvermittelt. Dies sind nur drei Leseempfehlungen. Viele andere Lesenswerte Bücher bleiben ungenannt. Eine viel umfassendere Liste hat das Kulturmagazin Perlentaucher zusammengestellt, die wir Ihnen empfehlen und die Sie hier finden .
von Raimund Gründler 9. Oktober 2024
Kurzbesprechung des Romans "Lichtungen" von Iris Wolff.
Spaziergänge durch die Banlieues
von Raimund Gründler 16. Juli 2024
Die Banlieues von Paris - Soziale Brennpunkte und Austragungsort olympischerWettkämpfe. Anne Weber führt uns auf zahlreichen Spaziergängen durch diese widersprüchliche Welt.
Vorstellung von
von Raimund Gründler 18. Mai 2024
"Mannheim liest ein Buch" geht 2024 in die 3. Runde. Glesen wird "Drei Kameradinnen" von Shida Bazyar. Wir stellen ihnen das Buch vor.
9. April 2024
Michael Augustin widmet Czernowitz ein Gedicht - eine beeindruckende Homage dieser bedrängten Stadt.
Ein Roman aus dem Jahr 1922 - aktueller denn je.
von Raimund Gründler 22. Februar 2024
Eine bitterböse Satire des österreichischen Autors Hugo Bettauer. Wenn heute rechtsextreme Kräfte von "Remigration" fantasieren, wird es Zeit, diesen Roman wieder zur Hand zu nehmen.
von Raimund Gründler 28. Januar 2024
Kurzbesprechung des Buchs "In einem alten Haus in Berlin" des Gerstenberg Verlags.
von Raimund Gründler 2. August 2022
Mannheim liest "Beschreibung einer Krabbenwanderung". Das ist ein Buch, das hervorragend zu Mannheim passt.
von Raimund Gründler 22. Mai 2022
Mit "Kein Haus aus Sand" legt Anja Kampmann ein beeindruckendes Hörspiel vor, das mit Stimmen der Vergangenheit die aktuelle Situation in Europa reflektiert.
von Raimund Gründler 25. April 2022
Schon über zwei Monate tobt der russische Angriffskrieg in der Ukraine. Intensiv wird in Deutschland die Frage diskutiert, wie vor diesem Hintergrund mit russischer Kultur und russischen Künstlern in Deutschland umgegangen werden soll. Wir stellen Ihnen heute einen Roman vor, der einen Blick ins oppositionelle Russland gewährt, der aber auch erahnen lässt, wieso eine wirkungsvolle Opposition gegen Wladimir Putin schon in den letzten Jahren nicht zustande kam.
Weitere Beiträge
Share by: