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"Von Frauen und Rabbinern"

Raimund Gründler • 27. Januar 2021

Ein besonderes Dokument untergegangener jüdischer Kultur


Vor wenigen Wochen erschien im Verlag „Die Andere Bibliothek“ wieder einmal ein Werk, das wie manches der stets hochwertig gestalteten und in limitierter Auflage vorgelegten Bücher dieses Verlags von Anbeginn an als eine Rarität auf dem Buchmarkt bezeichnet werden kann. Erstmals wurden nun mit „Die Rebbezin“ und „Lejbe-Lejsers Hof“ in „Von Frauen und Rabbinern“ zwei umfangreiche Erzählungen des großen Jüdischen Erzählers Chaim Grade in deutscher Sprache gedruckt. Grade wurde 1910 im litauischen Wilna (heute Vilnius) geboren. In dieser Zeit führte die Stadt den Beinamen „Jerusalem des Nordens“, sie war ein Zentrum der jüdischen Aufklärung, rund 40 Prozent der Bevölkerung gehörten dem jüdischen Glauben an. Aus dieser Welt der osteuropäischen Juden der zwanziger und dreißiger Jahre des vorigen Jahrhunderts erzählt Grade. Er schreibt über die Welt der gelehrten Rabbiner genauso wie über das Leben von Arbeitern und Handwerkern, Fuhrleuten, Metzgern und Markthändlern. Wir erleben Alltag und Festtage. Weniger Fromme werden mit streng religiösen Zeitgenossen konfrontiert. Die eine Frau will den Scheidebrief nicht annehmen und die andere Frau verzweifelt beinahe am mangelnden Ehrgeiz ihres gutmütigen Ehemanns.

Vor allem erzählt er aber von einer untergegangenen Welt, denn in der heutigen litauischen Hauptstadt Vilnius erinnert kaum mehr etwas an diese Zeit. In den Jahren der deutschen Besatzung während des 2. Weltkriegs wurde auch in Litauen das jüdische Leben nahezu ausgelöscht. Chaim Grade konnte fliehen. Über die Sowjetunion und Paris führte ihn sein Weg in die USA, die zu seiner zweiten Heimat werden sollten. Zeitlebens schrieb er aber in seiner Muttersprache, dem litauischen Jiddisch. Manche seiner Werke wurden schon früh ins Englische übersetzt. Der deutsch-amerikanischen Literaturwissenschaftlerin Susanne Klingenstein, die als eine der besten Kennerinnen jüdischer Literatur gilt, verdanken wir nun die erste deutsche Übersetzung eines Teils des Werks eines Autors, den viele Beobachter zu den ganz großen jüdischen Romanciers.

Es ist kein Zufall, dass wir diesen Buchtipp am 27. Januar veröffentlichen, an dem Tag, an dem der Opfer des Nationalsozialismus gedacht wird. Ruft es uns doch auch in Erinnerung, welch reiche und über Jahrhunderte gewachsene Kultur mit der Vernichtung der Menschen, die sie geprägt und täglich gelebt haben, vernichtet wurde.

"Von Frauen und Rabbinern" von Chaim Grade, übersetzt von Susanne Klingenstein, erschienen im Verlag „Die Andere Bibliothek“, 422 Seiten, 44,-- €.
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