Die Aphorismen und Gedichte, die im heutigen Buch der Woche zusammengefasst sind, wurden schon vor über 50 Jahren niedergeschrieben. Sie stammen vom polnisch-jüdische Autor Stanislaw Jerzy Lec, der mit seinen „unfrisierten Gedanken“ weltberühmt wurde. Meist fasst er seine Überlegungen in ein oder zwei Zeilen zusammen und beweist regelmäßig, dass keine weitschweifigen Ausführungen notwendig sind, um wichtige Gedanken zu vermitteln. In vielen Sprachen sind zahlreiche Formulierungen von Lec in den allgemeinen Zitate- und Sprichwortschatz eingegangen.
Der Hanser Verlag hat vor einigen Monaten alle pointierten Aphorismen, Epigramme und Minimalsatiren, seien sie in einem Prosa- oder Gedichtform, in dem schönen Band „Sämtliche unfrisierte Gedanken - Dazu Prosa und Gedichte“ zusammen gefasst und neu aufgelegt. Beobachtungen wie „Sein Gewissen ist rein, er benutzt es nie“, oder „Die Zeit schreitet voran. Und die Menschheit?“ oder „Die Art der Beleuchtung einer Sache ändert nichts an ihrer Wirklichkeit.“ haben auch im 21. Jahrhundert nichts von ihrer Aktualität verloren.
Auf dieses Buch aufmerksam machte uns übrigens die Buchhändlerin Dr. Annegret Thiemann über die der NDR kürzlich in einem sympathischen Beitrag berichtete. Von ihrer kleinen Dorfbuchhandlung im schleswig-holsteinischen Felde aus beliefert sie Kunden auf allen Kontinenten mit Neuheiten, vor allem aber mit antiquarischen Raritäten. Der letzte weiße Fleck auf der Weltkarte, die Antarktis, wurde nun mit der Sendung von „Sämtliche unfrisierte Gedanken“ an eine dortige Forschungsstation geschlossen. Frau Dr. Thiemanns Begründung der Auswahl hat uns aufhorchen lassen: „Wir haben das ausgewählt, weil man so schön lange darüber nachgrübeln kann. Und wenn man sechs Monate in der Einsamkeit sitzt, dann braucht man etwas, an dem man lange entlang denken kann.“ Ist das dann nicht auch genau das richtige Buch für lange Lockdown-Abende?
Sämtliche unfrisierte Gedanken - Dazu Prosa und Gedichte, 512 Seiten, Carl Hanser Verlag, 14 Euro